Sunday, December 17, 2006

"Ich schäme mich sicher nicht vor anderen Frauen", Elke Krystufek 1



Auseinandersetzung von Elke Krystufek mit der Sammlung des MAK,
hier die Fotoarbeit Liquid Logic + Monstranz/Monstrance

© Elke Krystufek/MAK, Liquid Logic, 2006, Foto: Georg Schwarz

Die bildende Künstlerin ELKE KRYSTUFEK ist dafür bekannt, ihren nackten Körper bis zur Großaufnahme der Vagina, für ihre Kunst einzusetzen. Wie läßt sich das aber mit dem Schamempfinden der privaten Frau Krystufek vereinen? Scham als Begriff und gesellschaftliches System - ELFI OBERHUBER konfrontierte die Künstlerin hinsichtlich ihrer aktuellen Ausstellung Liquid Logic im Wiener MAK damit und fand dabei vor allem eines: den ungemeinen Schalk der Künstlerin!

Kurzprofil ELKE KRYSTUFEK - am 16.7.1970 in Wien (Sternbild Krebs) geboren - begann bereits mit 20 als Studentin Arnulf Rainers mit ihrer ersten Performance mit Titel Aktion an der Akademie der Bildenden Künste in Wien. 1993: erste Einzelausstellungen in Wien und Berlin.
Bis heute hunderte Collagen, Leinwandbilder, Fotografien, Zeichnungen, Videos und Performances. Die Malerei, meist bestehend aus Schrift und Bild, ist neben der Fotografie Krystufeks bevorzugtes Medium. Unzählige, meist nackte, provozierende Selbstporträts in Rollenbildern und bis zur Grenzerfahrung dienen ihr als Projektionsfläche der Kunstfigur "Elke Krystufek", um fremd genormte Vorstellungen, Wahrnehmung von Identität, sozial bestimmte Fixierung, kulturelle Gesetze, Sex, Gewalt, Diskriminierung und Popkultur bei fließenden Übergängen von Privatsphäre, Individuum und Öffentlichkeit aufzudecken. Inter/national - auch in Museumsankäufen - gleich erfolgreich ist sie derzeit im Wiener Museum für angewandte Kunst bis 1.4.2007 unter dem Titel Elke Krystufek - LIQUID LOGIC - The Height of Knowledge and the Speed of Thought, bis 18.2. unter SIMULTAN – Zwei Sammlungen österreichischer Fotografie im Fotomuseum Winterthur, bis 7.1. durch die Sammlung Essl unter Kunst der Gegenwart im Kunstverein Villa Wessel, Iserlohn, bis 3.1.2007 unter INTO ME / OUT OF ME im Kunst-Werke Berlin ausgestellt. 2005/06 Professuren an der Akademie der bildenden Künste in Wien und Karlsruhe. Galerie- Vertretung: Georg Kargl Fine Arts , Wien.


intimacy-art: Sie stellen sich in Ihrer Kunst oft nackt als Projektiosfläche dar. Spielt dabei der Begriff bzw. das Gefühl der "Scham" eine Rolle?
ELKE KRYSTUFEK: Nacktheit war viele Jahre mein Thema und spielt jetzt nur noch eine minimale Rolle. In der MAK-Ausstellung gibt es hauptsächlich Objekte und Porträtmalerei zu sehen.
intimacy-art: Es ist aber noch immer viel Nacktheit und damit Erotik vorhanden, vor allem auch Verbalerotik. Schämt man sich als Künstler nur nicht, wenn man weiß, es ist (für die) Kunst?
KRYSTUFEK: In der Kunstproduktion geht es um andere Themen. Scham ist für mich keine künstlerische Frage, mit der ich mich beschäftige. Es gibt nur die Frage des Blicks, des männlichen, des weiblichen, auch des gewalttätigen Blicks. Sprich: Von wem kommt der Blick, und auf wen wird er gerichtet?


Vagina und Penis - (un)gleiche Schamteile

intimacy-art: Die Scham ist als Begriff auch mit der Vagina gleichzusetzen ...
KRYSTUFEK: Wieso nicht mit dem Penis? (lacht)
intimacy-art: Ja, Ihr Bild mit den vielen überdimensional großen Penissen in der 5x10 Meter großen Seidenmalerei, steht interessanterweise im Zusammenhang mit der Kunst. Es trägt den Titel: "Art History - I´ve been there", mit Höhepunkt von einem größten braunen Penis, worüber steht: "Adult section: A Real Shit Penis."
KRYSTUFEK: Ja, dieses Bild mit den acht Penissen bezieht sich auf die Kunstgeschichte, die vorwiegend männlich ist. Und erst seit dem letzten Jahrhundert gibt es so etwas wie eine weibliche Kunstgeschichte, die damit verglichen noch relativ kurz und klein ist.
intimacy-art: Abgesehen davon sind aber auch Vagina und Penis im Leben und in der Kunst als Geschlechtsteile im Hinblick auf die Scham von Mann und Frau völlig konträr besetzt: Die Vagina wird verborgen, der Penis stolz präsentiert.
KRYSTUFEK: In anderen Kulturen, speziell auch auf der Osterinsel, ist die Repräsentation von Vagina und Penis relativ gleich, sei es auf Plastiken oder Zeichnungen.
intimacy-art: Unterscheidet sich der Umgang damit also in der Kunst immer von jenem des Menschen im Alltag?
KRYSTUFEK: Das ist natürlich auch eine Generations- und Kulturfrage. Ich glaube, dass es in meiner Generation keine so starken Unterschiede mehr gibt.
intimacy-art: Sie haben ein Bild mit Titel "Vaginanose" gemacht. Es wirkt wie ein oberflächlicher Witz, ist von der Aussage her aber sehr zynisch, wo es doch in der Kunstgeschichte viele Parllelen mit der Nase bzw. der Pfeife als Phallussymbol gibt, worauf die Männer entweder stolz sind oder sie ihre Triebgesteuertheit aufs Korn nehmen. Und Sie setzen nun provokanterweise auf Ihre Nase - denn das Bild zeigt Ihr Gesicht - die Vagina statt des männlichen Phallus.
KRYSTUFEK: Die Vaginanase entstand eigentlich aufgrund eines kunsthistorischen Textes von Max Raphael über die Osterinsel-Plastiken, deren Gesichtselemente - speziell Nase und Mund - er als Penis und Vagina deutet. Aber auch als Form von Vereinigung, Leben und Tod. Die Osterinsel-Skulpturen standen ja für die Stammesoberhäupter und waren teilweise so etwas wie Grabwächter. Denn es gibt auch einen sehr starken Ahnenkult auf der Insel. Es geht daher in diesem Text Raphaels auch sehr stark um das Überleben, wofür auch die Plastiken stehen. Sie sichern der Osterinsel das Überleben durch den Tourismus.


Ein Penis-Gefolge als Synonym für die Männerdominanz in der Kunstgeschichte, wobei einer ein echter Shit-Penis ist, in Elke Krystufeks Wand-Großbild Art History - I´ve been there, 2006. Dem stellt Elke Krystufek einfach die poetisch wendige Vagina gegenüber: das Segelboot Cunt-Tiki mit geöffnetem Scheiden-Segel.
(MAK-Ausstellungsansicht/Exhibition View „Elke Krystufek. LIQUID LOGIC“, MAK 2006, Ausschnitt aus Foto:© Christian Saupper/MAK, 2006)

Masturbierende Künstler/innen - nichts zum Verlieben

intimacy-art: Jetzt muß ich zugeben, dass mich Ihre Nacktfotos anfangs abschreckten. D.h., ich fühlte mich als Betrachter in meinem Schamgefühl verletzt. Als ich aber dann Ihre Malerei sah, sah ich in Ihrem Strich eine Sehnsucht und Sensibilität, wodurch die Sympathie kam. D.h., Sie vereinen reizvollerweise Ablehnung und Begeisterung. Denken Sie während der Kunstproduktion bewußt an die Reaktion des Betrachters?
KRYSTUFEK: Nein, ich orientiere mich ausschließlich am Kunstkontext, wo immer mit nackten Körpern gearbeitet wurde, speziell mit Frauenkörpern. Das zieht sich durch die Kunstgeschichte hindurch. Das Außergewöhnliche war, dass im Feminismus der 60er-70er Jahre, bildende Künstlerinnen begannen, den Blick auf ihren eigenen Körper zu richten und diesen Körper neu zu definieren. Die Scham richtet sich ja ebenfalls auf die Frage des Blicks. Und ich selbst schäme mich sicher nicht vor anderen Frauen.
intimacy-art: Ach, nicht?
KRYSTUFEK: Nein.
intimacy-art: Meiner Ansicht nach entsteht das Schamgefühl nicht vor dem anderen Geschlecht, sondern sobald man jemanden kennt. Vor Fremden hat man kein Schamgefühl. Aber das ist wieder die private Ebene. - Weil ich aber sagte, die Liebe zu einem Künstler entstünde aufgrund seiner Malerei. Da habe ich nun in Ihrer Ausstellung ein Werk mit dem Zitat gefunden: "Intellectuels love you for paintings, not for masturbation." - Das zeigt mir, dass Sie das eigentlich selbst wissen.
KRYSTUFEK: Da ging es eigentlich darum, dass Intellektuelle sich in der Literatur oft vor berühmten Bildern verlieben.
intimacy-art: Also nicht in das Bild, sondern in eine Person?
KRYSTUFEK: Ja, ein Literaturklischee. Sie begegnen sich in Romanen im Museum.
intimacy-art: Sie verlieben sich aber eben nicht vor Bildern mit Masturbation.
KRYSTUFEK: Es gibt in der Kunstgeschichte auch sehr wenige Masturbationsperformances, wogegen es gigantisch viele Bilder gibt. (lacht)
intimacy-art: Aber im Grunde trifft das meine Annahme: dass man sich in der Literatur vor der Masturbation nicht verliebt, bedeutet ja so gut wie, dass man sich in einen masturbierenden Künstler nicht verliebt.
KRYSTUFEK: Mir geht es nur um das Klischee, dass man sich im Angesicht der "hohen Kunst", bzw. eines Gemäldes aus dem 15. Jahrhundert, so ergriffen fühlt, dass man sich in seinen Kulturbesuchspartner verliebt. Und dass man sich weniger angesichts eines sehr offensichtlich sexuellen Aktes in jemanden zu verlieben beginnt, weil man dann zu viel über Sexualität nachdenken muß. Man ist viel zu viel mit dem realen Begehren, einem realen Problem konfrontiert
.


Elke Krystufeks gekonnte Malerei ist einfach zum Verlieben. Hier malt sie das Trio Papst, Cat Stevens und Künstler Bas Jan Ader: Josef, Yusuf, Bas, 2006 © Elke Krystufek, Foto: MAK/Georg Mayer 2006

Wie romantisch ist die toughe Elke Krystufek?

intimacy-art: Fühlen Sie selbst Romantik und Sehnsucht, während Sie malen?
KRYSTUFEK: Malerei ist für mich ein Kommunikationsmedium, in seiner Form ähnlich romantisch wie das Internet. (lacht)
intimacy-art: Aha? Haben Sie denn auch Internetkunst gemacht?
KRYSTUFEK: Meine Kunst ist über Dokumentationen natürlich im Internet sehr präsent. Ich habe einmal mit einer Institution in Frankreich eine CD-Rom produziert, aber keine spezielle Netzkunst hergestellt. Doch das Internet ist natürlich für bildende Künstler das Kommunikationsmedium schlechthin, um ihre Arbeiten zu vertreiben.
intimacy-art: Ich glaube dennoch, dass Ihr größtes künstlerisches Potential in der Malerei liegt. Das mag subjektiv sein, dennoch, Ihr Strich ist etwas, das Ihnen niemand nachmachen kann. Das strahlt einen als etwas ganz Besonderes an. Ich glaube, dahinter liegt eine romantische Frau, die Künstlerin ist, weil sie es gerne ist. Deshalb fühlt man darin diese Sehnsucht, obwohl man von Ihnen adhoc kaum sagen kann, dass Sie ein romantischer Mensch wären.
KRYSTUFEK: Romantisch ist in dieser Ausstellung vielleicht der Film Dr. Love on Easter Island, 2006, wo es darum ging, eine Person zu finden, von der ich mir sicher war, sie existiert. Bzw. eine Filmrolle für jemanden zu schreiben, der die Person des Dr. Love darstellt, die für mich im Gegensatz zu Dr. Freud im Freud-Jahr steht. Als Figur, die den Spiegel hat und die durch den Zufall, eine weibliche Hauptperson um Mitte/Ende 30 zu sein, automatisch zu so etwas wie einer Mutterrolle wird. (lächelt) (Anm. Elke Krystufek trägt als diese Figur das Foto ihrer Mutter, die im realen Leben fotografiert(e), vor dem Gesicht, was zugleich für den Kamerablick im Film steht.)
intimacy-art: Ah, ja.
KRYSTUFEK: Das Romantische war in diesem Zusammenhang aber, jemanden zu finden, den es zu Anfang des Films nicht gegeben hat.
intimacy-art: Und am Schluß dann schon?
KRYSTUFEK: Und am Schluß dann schon.
intimacy-art: Auch in Ihrem echten Privatleben. Wahrscheinlich, oder?
KRYSTUFEK: Also in dem ganzen Film ist es so, dass sich jeder der Darsteller auch selbst spielt. Es gab zwar ein Skript, aber zunächst keine geschriebenen Dialoge. So konnte jeder im Rahmen des Films auch er oder sie selbst sein.
intimacy-art: Das ist der Film, in dem Sie auf einem Boot fahren, im Meer schwimmen und auf die Insel kommen.
KRYSTUFEK bestätigt: Mh, hm.

Im Film Dr. Love on Easter Island kommt Elke Krystufek mit Muttergefühlen auf eine Insel, wo sie die große Liebe findet. (MAK-Ausstellungsansicht/Exhibition View Elke Krystufek. LIQUID LOGIC, MAK 2006, Ausschnitt aus Foto: © Christian Saupper/MAK, 2006)

Lesen Sie in Teil 2 demnächst auf dieser Site: Die gesellschaftlich-tierische Funktion von Scham und wie sehr Elke Krystufek die "Scham" anderer Künstler respektiert
(Interview-Auszug vom 5.12.2006, volle Länge in Print (Deutsch + Englisch) / Audio (Deutsch) über intimacy-art@gmx.at)

Saturday, November 18, 2006

"Ich weiß, dass ich Musik nicht verstehe, aber ich brauche dafür Zeit", David Harrington (Kronos Quartet),3


Kronos Quartet-Bandleader DAVID HARRINGTON im letzten Teil des Gesprächs mit ELFI OBERHUBER. Die Gesprächsphilosophie über die Zeit und Minimalmusik endet in einem traurigen Schicksalsschlag, der den Violonisten zur Erkenntnis von "wahrer Musik" brachte.
Für Teile 1+2 scroll down.

photo: David Harrington (© Elfi Oberhuber)


intimacy-art: Ich finde in allen Ihren CDs trotz Ihrer Vielfalt entweder einschlägige oder zumindest Passagen von Minimalismus-Musik. Sie scheinen eine persönliche, enge Beziehung zu diesem Musikstil zu haben.
HARRINGTON: Wir haben so viele Musikformen gespielt und jeder von ihnen fühle ich mich sehr nahe. Ob tatsächlich überall Minimalismus zu finden ist, hängt davon ab, was unter dem Begriff verstanden wird. Bei Alfred Schnittke gibt es karge, sehr nackte Momente in der Musik. ­ - Ist das nun Minimal-Musik? ­ Also, ich weiß nicht ...

Von der melancholischen Lust zum echten, bitteren Klang

intimacy-art: Vielleicht ist es nur diese melancholische Gefühlsanlage in Ihnen, warum Sie wiederholt zu entrückenden Ausdrucksformen von Musik greifen. Schon das erste Stück, das Sie so sehr anzog, dass Sie überhaupt Ihr eigenes Quartet gründeten, war mit George Crumbs ...
HARRINGTON: “Black Angels.
intimacy-art: ... ein Werk, das mit der Schönheit des Schmerzes in der Musik arbeitet. Ich behaupte also, dass Sie das stark anzieht. Zumindest hat es das lange. Nun mußten Sie in den späten 1990-ern aber eine sehr bittere Erfahrung hinnehmen: Sie verloren Ihren Sohn, als er erst 16 Jahre alt war. Verändert so eine reale Erfahrung die Lust, sich nach traurigen Momenten in der Musik, in der Fantasie, zu sehnen?
HARRINGTON (überlegt lange): Nun, “Black Angels zu hören, veränderte tatsächlich mein Leben. Und die letzten Jahre verbrachte ich andauernd damit, die richtige Musik zu finden, um mich ausgeglichen zu fühlen. Als ich Black Angels 1973, zur Zeit des Vietnam-Krieges, hörte, war ich ein junger, amerikanischer Musiker, der versuchte, irgendwo den Sinn des Lebens heraus zu filtern. Und alles, was ich aus dieser Musik heraus hörte, machte als Antwort auf den Krieg Sinn. Als nun mir und meiner Familie diese Tragödie passierte und unser Sohn starb .... (lange Pause)...., da war in mir für lange Zeit überhaupt keine Musik mehr. Ich wußte auch nicht, ob ich wieder Musiker sein könnte. Langsam kam sie zurück. Sie war aber verändert. Mein Gehörsinn, meine Sinneswahrnehmung für das, was echt und ehrlich ist, wuchs um Vieles an. Ich fühle auf eine wirklich persönliche Weise, dass diese Tragödie jede Minute in mir ist, und ganz akut, wenn mir Musik begegnet, die für mich Sinn macht.
intimacy-art: Haben Sie noch andere Kinder?
HARRINGTON: “Ja, schon, auch Enkelkinder, aber .... (Pause)
intimacy-art: Denken Sie, dass es für all unser Schicksal Gründe gibt? Terry Rileys Multimedia-Live-Projekt Sun Rings in Ihrem Repertoire fragt ja nach dem "warum?" der menschlichen Existenz. Er selbst sagt: "Der Weltraum ist das Reich der Träume und der Vorstellungskraft und ein fruchtbarer Boden für Poeten und Musiker. Alte Astrologen waren sich der Einflüsse der planetaren Bewegungen auf unser Leben bewußt." - Sind unsere Anlagen vorgegeben?
HARRINGTON: Warum wir hier sind und warum wir Körper haben, Finger und Ohren ­ - diese Dinge liegen jenseits unseres Verständis-Vermögens, dafür sind unsere Gehirne zu klein. Ich glaube aber: Alles hat Auswirkungen auf alles. Gehen Sie auf bestimmte Weise durch dieses Zimmer, verändern Sie entsprechend die Luft. Und machen wir die Türe auf, dann verändert sie sich auch draußen. Alles beeinflußt alles. Und es gibt keine Möglichkeit, dem zu entrinnen.
intimacy-art: Wenn wir auf Ihre bisherige Lebensleistung schauen ­ - Sie haben die Welt um hunderte neue Komponisten, Werke und brillante Interpretationen bereichert - ...
Harrington deutet auf die Uhr, da die Zeit um ist.
intimacy-art: ... wenn Sie zurück schauen, was würden Sie sich dennoch wünschen, nicht passiert zu sein?
HARRINGTON: Ich wünsche mir ununterbrochen, mein Sohn würde noch leben. Ständig.

Als sich David Harrington und die Interviewerin aufrichten, neigt sein Kopf in Richtung seines aufgeklappten Geigenkastens. Sie folgt seinem Blick: Auf der Innenseite sind Familienfotos aufgeklebt. Ein Bild könnte von seinem verstorbenen Sohn sein. Ein Gefühl sagt ihr, jetzt lieber zu schweigen... Doch als David Harrington abends Peteris Vasks Solo Streichquartet Nr. 5. spielt, scheint es, als würde ein wissendes Band des Schmerzes zwischen ihr und ihm gezogen. Er spielt so leidenschaftlich traurig, mit so großer Wehmut, dass ihr klar ist, an wen er dabei denkt. Ein Pathos vom grausamen Leben, wo Zeit keine Wunden mehr heilen kann. Und doch wird es so für Spieler und Zuhörer: echt... und unvergeßlich.

(Interview-Auszug vom 18.5.2006, volle Länge in Print (Deutsch + Englisch) / Audio (Englisch) über intimacy-art@gmx.at)

Monday, November 13, 2006

"Ich weiß, dass ich Musik nicht verstehe, aber ich brauche dafür Zeit", David Harrington (Kronos Quartet), 2








Kronos Quartet-Bandleader DAVID HARRINGTON im zweiten Teil des Gesprächs mit ELFI OBERHUBER. Eine Philosophie über die Zeit, die sich anfühlt wie Kronos-Musik. Vor dem ergreifenden Finale aber noch die Debatte über "Minimalmusik", die zuhauf im Kronos-Repertoire zu finden ist.

photo: David Harrington (© Elfi Oberhuber)


Von der Nicht-Existenz der Minimalismus-Musik


intimacy-art: Hat Minimalismus eine spezielle Art, mit Zeit umzugehen? Technisch und in der Art, die Wahrnehmung des Interpreten und des Publikums zu berühren?
HARRINGTON: Interessantweise sagte jemand wie Terry Riley einmal: “Während Musikwissenschaftler den Begriff “Minimalismus" definierten, um meine Musik zu benennen, schrieb ich schon ganz etwas anderes." Auch ich glaube nicht an funktionierende Musikdefinitionen. Bei Terry Riley, Steve Reich und jedem anderen so genannten “Minimalisten", denke ich nur an deren Persönlichkeit: Wie es ist, mit ihnen zusammen zu sein, ihre Musik zu spielen, mit ihnen zu proben, mit ihnen zu sprechen.
intimacy-art: Der Zuhörer verliert dabei dennoch generell schnell die realistische Wahrnehmung. Die monotonen Wiederholungen gehorchen einer anderen Logik. Führt diese Zeit-Dehnung bzw. -Rhythmisierung, nicht automatisch in eine optische, surreale Dimension? Schon da oft das “Horror-Genre" damit unterlegt wird. Sie selbst habe Dracula mit Philip Glass vertont.
HARRINGTON: Aber die Qualität von jeder Musik ist doch Wiederholung, Variation, Wechsel. Sicher, manche Stücke wurden Minimalismus-Stücke genannt, wie Terry Rileys In C, das nur aus Basis-Elementen zu bestehen scheint und während eines langen Zeitabschnitts eher langsam wechselt. So bekommt der Hörer das Gefühl, er würde einen bestimmten Raum bewohnen. Aber ich glaube dennoch, dass das bei vielen Arten von Musik geschieht. Es wird lediglich der Minimalismus-Musik zugeschrieben. Das passiert aber auch bei Schubert, bei Mahler!
intimacy-art: Sicher, man könnte auch Alban Berg für “Horror" nehmen: das Atonale, Verunsichernde.
HARRINGTON: Filmmusik bedient grundsätzlich Klischees. Doch sie sucht und definiert auch neue Wege des Ausdrucks, sodass man sie irgendwann automatisch als Schreckensmusik oder als romantische Musik empfindet.
intimacy-art: Ist es Ihrer Ansicht nach also nur eine Konnotationssache: Die Leute lernen und gewöhnen sich daran, ein spezielles Gefühl bei einer bestimmten Musik zu haben?
HARRINGTON: Nun, es gäbe keine Hollywood-Musik ohne Gustav Mahler.
intimacy-art: Dennoch finde ich in allen Ihren CDs trotz Ihrer Vielfalt entweder einschlägige oder zumindest Passagen von Minimalismus-Musik. Sie scheinen eine enge persönliche Beziehung zu diesem Musikstil zu haben?
HARRINGTON: Wir haben so viele Musikformen gespielt und jeder von Ihnen fühle ich mich sehr nahe. Ob tatsächlich überall Minimalismus zu finden ist, hängt davon ab, was unter dem Begriff verstanden wird. Bei Alfred Schnittke gibt es karge, sehr nackte Momente in der Musik - ist das nun Minimal-Musik? Also, ich weiß nicht ...

Lesen Sie in Teil 3 des Interviews demnächst auf dieser Site: David Harringtons wunder Punkt seines Lebens und Schaffens.
(Interview-Auszug vom 18.5.2006, volle Länge in Print (Deutsch + Englisch) / Audio (Englisch) über intimacy-art@gmx.at)

Thursday, October 26, 2006

"Ich weiß, dass ich Musik nicht verstehe, aber ich brauche dafür Zeit", David Harrington (Kronos Quartet), 1

photo: David Harrington (© Elfi Oberhuber)

Kronos Quartet-Bandleader DAVID HARRINGTON findet im Gespräch mit ELFI OBERHUBER in 25 Minuten zu einer Tiefe, die unglaublich ist. Bevor es dazu kommt, aber zuerst der erste Teil über den Zusammenhang von Zeit, Musik und Musikerdasein, sowie das Bedürfnis dieses Topmusikers, einen Komponisten als Mensch ganz genau kennen zu müssen.

Kurzprofil KRONOS QUARTET: Dieses amerikanische Streichquartett kann in drei Jahrzehnten seiner Existenz getrost “das Berühmteste der Welt" genannt werden, ständig auf der Suche nach Neuem, meist einen Trend aufspürend, dem dann andere folgen. Seine letzte CD You´ve Stolen My Heart - Songs from R.D. Burman´s Bollywood widmet sich der indischen Filmmusik. Kaum ein anderes Quartett hat mehr Preise geholt; beinahe jährlich eine Grammy-Nominierung und für die Alban-Berg-CD Lyric Suite 2003 ein Grammy. Wer sich genauer mit dem immensen Werkspektrum des von Violonist DAVID HARRINGTON (Sternbild Jungfrau) gegründeten Kronos Quartets beschäftigt, merkt aber bald, dass seine eigentliche Qualität im Aufspüren und Motivieren von zeitgenössischen Komponisten bei mittlerweile 450 neuen Stücken liegt, quer durch die Kulturen aller Welt. Oft geschrieben von Menschen, die ohne Aufforderung nie für ein Streichquartett schreiben würden. Die Folge sind einzigartige Innovationen in der Streichquartett-Gattung, mit Rock, Pop, Minimalismus, Atonalität, World, Jazz, schlicht mit allem (Un)denkbaren, oft schmerzhaft schön, manchmal ungemein rhythmisch unterhaltend. Kein Tabu kann diese Forscher bremsen! Übrigens: diese Gruppe lebt großteils von Spendengeldern - eine Formulierung, für die man sich in Amerika nicht zu schämen braucht...
Die Kronos-Mitglieder: DAVID HARRINGTON (Violine, Bandleader), John Sherba (Violine), Hank Dutt (Viola), und neu dabei seit August 2005: Jeffrey Zeigler (Cello)
Vom 15.-18.11. ist das Kronos Quartet live in Wien im Rahmen des New Crowned Hope-Festivals zu hören. Genaue Daten auf intimacy-art.com / aKtuell / REALNEWS / INTERVIEW (mit Peter Sellars)



Von der schönsten halben Musiksekunde

intimacy-art: Es ist jetzt 15h30. Und wir haben 25 Minuten Zeit. Mögen Sie Interviews in Eile?
DAVID HARRINGTON: Es ist für mich ein Abenteuer, selbst wenn es kurz ist.
intimacy-art: Kann sich denn knapp limitierte Zeit auf Ihre eigene Arbeitsweise in der Musik positiv auswirken?
HARRINGTON: Ich sammle ja Musik, tagein, tagaus. Und einige meiner stärksten Erfahrungen waren jene Formen, die sich um eine einzige Note drehten. Je nachdem, wie sie ein Musiker wichtig werden ließ. Das veränderte mein Leben so sehr, dass ich ab diesem Zeitpunkt völlig neu darüber dachte und damit umging.
intimacy-art: Wird für diese einzige Note dennoch viel Zeit benötigt?
HARRINGTON: Nein, die Eindruckvollste auf Violine dauerte eine halbe Sekunde.
intimacy-art: Ist der Vorteil der zeitlichen Knappheit, sich sehr konzentrieren zu müssen? Auch, bezogen auf Ihre oft kurzen Stücke, worin alles kompakt verpackt ist, sodass es stark wirkt.
HARRINGTON: Nun, auch die Kunstwelt ist ein geschäftiger Ort, wo sich jeder Künstler in den Wettbewerb um Zeit und Aufmerksamkeit der Leute schmeißen muß. Deshalb fordere ich unsere Komponisten immer auf: "Ein Stück soll so kurz sein, wie es nur sein kann, und so lange, wie es sein muß." Das funktioniert als Regel, denn der Mensch sucht immer nach dem direktesten Weg. Das Leben ist kurz. Es könnte schon gleich enden. Und die Musik hat dem zu gehorchen.

Vom Momenttyp zum Planertyp

intimacy-art: Würden Sie sagen, dass Sie sehr im Moment leben - das soll "der Unpünktliche" sein ­ oder nach Zeitplan?
HARRINGTON: Beides. Um auch nur einen Teil dessen machen zu können, was ich machen will, brauche ich viel Planung und Organisation. Gleichzeitig gehe ich sehr nach dem Instinkt. Wie wenn du durch ein Plattengeschäft gehst und dich fragst, was dich wohl zu dieser Aufnahme hinzieht?
intimacy-art: Ein guter Musiker muß ja an-sich schon ein Momenttyp sein, da er mit völliger Hingabe Stücke transportiert. Aber auch Ihr Sinn für die Mode(rne) unserer Zeit macht Sie dazu, indem Sie Musikstile ­ wie gerade jetzt Bollywood oder davor Lateinamerikas (CD: Nuevo) ­ produzieren.
HARRINGTON: Sicher, ich vertraue prinzipiell auf meine Ohren. Ich höre mir viel Musik an, höre auf viele Gespräche mit verschiedenen Komponisten. Und plötzlich werde ich magnetisiert, von einer dieser Musikformen, einem dieser Stücke, dieser Komponisten ­ und dieses Gespür ist es, das mich antreibt.
intimacy-art: Und dann sind Sie so interessiert, dass Sie diesen Mann, diese Frau mehr als Persönlichkeit als über deren Interpretationsvorgaben am Notenblatt verstehen wollen.
HARRINGTON: Absolut. Wir sind da wie Detektive. Denn nur so gewinnen wir genügend Information, um herauszufinden: "Was hat diese eine Note wohl für eine Wichtigkeit?" Dafür muß der Komponist manchmal viele Fragen beantworten. Seine Musik-Notationen sind eine zu unexakte Kommunikationsform. Eben wie Worte: Eine Person meint mit bestimmten Worten eine Sache, die andere versteht darunter etwas völlig anderes. Noch ungenauer wird es bei verschiedenen Sprachen und Übersetzungen. Wie wir also eine Interpretation erreichen, hängt von den Beweisen, den Wahrheiten ab, die wir selbst sammeln. Und ein Komponist kann uns ziemlich exakte Beweise liefern. Selbst wenn es noch immer nicht die einzigen sind.
intimacy-art: Beschwerte sich je ein Komponist, "nein, da habt Ihr mich falsch verstanden und nur Euren eigenen Stil aufgedrückt!"?

Musik - Etwas noch höheres als eine Frau

HARRINGTON: Ehm, es ist uns direkt nie gesagt worden, aber...
intimacy-art: So hätte ich es auch gedacht.
HARRINGTON: ... vielleicht wurde es dennoch gesagt, und ich erinnere mich nur nicht daran. Kronos ist ein Resultat aus einmaligen und langjährigen Beziehungen. Ich interessiere mich allerdings auch bei langer Komponisten-Zusammenarbeit für niemanden, der sein nächstes Stück "für" Kronos schreibt, das es dann spielen "muß". Denn das würde uns in etwas hineinboxen. Ich möchte sehr frei sein, in jede mögliche Richtung gehen können.
intimacy-art: Dann sind Sie eigentlich noch mehr der Jäger als der Sammler.
HARRINGTON: Ein treffender Vergleich. Ich halte Musik selbst für etwas sehr wildes, freies, unbezwungenes. Ich weiß, dass ich sie im Grunde nicht verstehe. Und keiner von uns wird sie je richtig verstehen. Ich weiß darüber sicher nicht mehr als Sie.
intimacy-art: Vielleicht wollen Sie sie nicht verstehen, um sie lieben zu können.
HARRINGTON: Sie ist für mich jedenfalls ein Mysterium.
intimacy-art: Dann muß die Musik wohl eine Frau sein!
HARRINGTON: Etwas noch Höheres. Denn wie funktioniert sie wirklich? Was ist Musik? Sie ist eine menschliche Erfindung: Jede Kultur scheint sie zu haben, fast jede Religion. Die Menschen haben sie entwickelt, um sich Freude zu bereiten, ein Gemeinschaftsgefühl zu haben. Sie vermittelt Sinn für Kontinuität, Vergangenheit und Zukunft. Sie ist ein Mittel, das Leben zu feiern, oder zumindest eine Tiefe zu markieren. Aber wie das tatsächlich funktioniert, welchen Prozeß die Menschen dabei durchlaufen, wenn sie Musik erfahren - das ist letztendlich eine ganz persönliche Sache. Für jeden Menschen. Was Sie bei Musik denken oder empfinden, ist ganz anders als das, was ich darüber denke und empfinde. Selbst wenn wir dieselbe Musik hören, wie jetzt.
intimacy-art: Dennoch schaffen Sie das Wunder, so viele Menschen für Ihre, auch sprerrige, Kronos-Musik zu begeistern; Und besonders bekannt und beliebt sind Sie wegen der vielen Minimalisten in Ihrem Repertoire.

Lesen Sie in Teil 2 des Interviews demnächst auf dieser Site: Weshalb David Harrington an der Existenz von Minimalismus-Musik zweifelt.
(Interview-Auszug vom 18.5.2006, volle Länge in Print (Deutsch + Englisch) / Audio (Englisch) über intimacy-art@gmx.at)

Wednesday, September 06, 2006

"Einen G-Punkt zu dirigieren ist leicht", Kristjan Järvi




Dirigent KRISTJAN JÄRVI schwelgt im Interview mit ELFI OBERHUBER in sexueller Ekstase und denkt dabei doch nur an das "Tonkünstler Orchester Niederösterreich": Als Rockband wie von Frank Zappa!



Kurzprofil KRISTJAN JÄRVI: Am 13.6.1972 in Tallin/Estland (Sternbild: Zwillinge) geboren, emigrierte der Sohn des weltberühmten Dirigenten Neeme Järvi als Achtjähriger mit der Familie in die USA. Bruder Paavo Järvi lernte Schlagzeug und ist ebenfalls Stardirigent (ab 2006/07 leitet er das hr-Sinfonieorchester in Bremen). Schwester Maarika ist Flötistin, mit der Kristjan mehrere CDs aufgenommen hat. Alle drei teilen ihr Faible für estnisch-nordische Komponisten. Nach einem Assistenzdirigat bei Esa-Pekka Salonen in Los Angeles und einem Chefdirigat beim Norrland Opernhaus in Schweden, ist Kristjan Järvi seit 2004/5 bis 2009 Chefdirigent des “Tonkünstler Orchester Niederösterreich". 2006 gastierte er zudem mit seinem "Absolute Ensemble" in Wien, das er 1993 nach seinem Klavier- und Dirigentenstudium in New York gründete. Es zählt grammynominiert zu den führenden Kammer-Ensembles und hat neben Barock bis Rock über zeitgenössische Komponisten (Erkki-Sven Tüür, Charles Coleman, Daniel Schnyder und Peeter Vähi) vor allem Frank Zappa im Live-Programm.
photo: Kristjan Järvi © Tonkünstler Niederösterreich
Sex´n´Rock´n-Roll-er am Pult

intimacy-art:
Frank Zappas theatrale Musik-Tripps, mit denen Sie und das Absolute Ensemble erfolgreich durch die Welt touren, waren “echter" als Ihre. Mit ihm selbst als genialem Verlierer, einem übertalentierten, mißverstanden Außenseiter. - Haben es Künstler heute schwerer als in den Siebzigern?
KRISTJAN JÄRVI: Rebellische Leute wurden damals eher akzeptiert. Wir müssen uns heute in eine Richtig- oder Falsch-, in eine Bürgerlich- oder Alternativ-Gesellschaft einpassen. Es gibt nichts dazwischen. Dabei wäre ja das Großartige am Künstler, sich individuell und nicht konform ausdrücken zu können. Darin sind in der Musik aber generell nur Pop und Jazz frei. Um dem entgegen zu wirken, gründete ich mein eigenes Kammerorchester “Absolute Ensemble", um mich wirklich selbst ausdrücken zu können, was ich mit dem Symphonieorchester nicht kann. Noch nicht. Mein Traum ist es aber, eines Tages mit ihm wie mit einer Band zu spielen und dann alles Mögliche damit anstellen zu können...
intimacy-art: Mit einem 100-Mann-Orchester?
JÄRVI: Bevorzugt 100 Frauen.
intimacy-art: Das erinnert an Zappas Bobby Brown, der singt: “Oh God, oh God, I´m so fantastic....", dabei ist er aber ein ganz ein mieser Liebhaber. Meinte Zappa, was seine selbstironischen Protagonisten sagen, oder sind das nur provokative Kunstfiguren, die eine ungewöhnliche Musik ermöglichen?
JÄRVI:
Das sind keine Kunstfiguren, nein, denn Zappa war ein Satiriker, der sich konsequent über die Gesellschaft lustig machte. Im Speziellen mit Bobby Brown, weil doch jeder zuerst an sich denkt und sich als sehr wichtig einschätzt. Das zeigt die Lächerlichkeit unserer Gesellschaft.
intimacy-art: Neben Rassismus und sozialer Unterdrückung, ging es ihm um Sex und Liebe. In “Baby Snakes" haben Baby-Schlangen, also junge Mädchen, begehrenswerte winzige Löcher, die normalerweise leer und rosa sind.
JÄRVI
(lacht)
intimacy-art: In “Dirty Love" will Zappa kein Gefühl, keine Zurückhaltung, keine Ergebenheit von der Frau, sondern ungezogenen Sex wie von einem Pudel.
JÄRVI (lacht)
intimacy-art: Dagegen kommt eine “Teenage-Prostitute", ein ängstliches Mädchen, nicht von seinem Zuhälter los, der es wie einen Hund behandelt. Identifizieren Sie sich da mit Zappa?
JÄRVI: Er sagt da sicher nichts Neues. Es ist alles sehr wahr.
intimacy-art: Ah, ja?
JÄRVI: Sicher. Wären diese Songs nicht wahr, würden sie nicht auf so große Resonanz stoßen und wären nicht so populär.
intimacy-art: Indirekt verweist Zappa damit auf den Reiz "intellektueller Mann - dumme Frau". Finden Sie das attraktiv?
JÄRVI:
Was animalisch begründet ist, da die Männer instinktiv die Unterwerfung suchen. Außerdem will man während des Sexaktes ja nicht unbedingt diskutieren ...
intimacy-art: Dieses Thema war für Zappas Musik jedenfalls ideal, da er Musikstile für jede Lust-Dimension erfinden konnte. Wie?
JÄRVI: Er kombiniert total unerwartete Elemente, sodass (s)eine Rockband sogar “dumm" klingt. Manchmal wechselt er von purer Technik zu totaler Auflösung. Er verstellt die Stimme, benutzt Instrumente wie Cembalos. Das ist alles total theatral, alles Schauspiel. In “Cosmic Debris" wechselt der Blues zum Rock und dann zur plastischen Introduktion, die wie eine Erklärung ist. Eine Sache führt zur anderen... Zappa ist ein kluger Geschichtenerzähler, mit vielen verbalen und musikalischen Rätseln, und dann aber auch wieder ganz platt und eindeutig. In “Teenage Prostitute" folgt auf das “tantatatatata" ein plötzliches “tiiiiiiiiiii, tiiiiiiiiiiiii", wo also offensichtlich ist, dass da etwas Höhepunktartiges vor sich geht.

Vom G-Punkt zu Beethoven
intimacy-art: Wie kann aber ein Mann einen G-Punkt komponieren?
JÄRVI:
Das ist sehr leicht.
intimacy-art: Echt? Haben Sie einen?
JÄRVI:
Nun, nein, aber man kann es sich vorstellen.
intimacy-art: Wie ist die Musik in Ihrem/Zappas “G-Spot-Tornado"?
JÄRVI: Großartig. Ich liebe sie.
intimacy-art: Ist sie schnell?
JÄRVI: Wie eine echt schnell gespielte Volksmusik.
intimacy-art: Wie eine Ekstase?
JÄRVI: Ja, wie: (trippelt mit zwei Fingerspitzen auf den Tisch).
intimacy-art: Ah, eine“Stimulation"!
JÄRVI: Ja.
intimacy-art: Einer der Ersten, der Frank Zappa symphonisch aufführte, war der amerikanische Minimalist John Adams mit dem deutschen “Ensemble Modern" 1996. Und Adams wiederum führen Sie selbst gerne auf. Fühlen Sie sich seinem Musikstil nahe?
JÄRVI: Ja. Er schreibt wie ein Songwriter, jedoch für Orchester lange, teure, expressive Stücke von intellektuellem und emotionalem Niveau, die eine soziale Aufgabe erfüllend wichtige Themen und nicht nur intellektuelle Ästhetik ansprechen. Er ist ein klassischer Komponist mit Rockseele, der in der Ära des kreativen Rock´n´Roll um Jimi Hendrix 1960/70 aufwuchs, und ihn dann mit Neuer Musik kombinierte, was zu jener Zeit der Minimalismus mit Konzentration auf Groove war. All das ist in Zappas Musik enthalten. Aber Minimalismus ist auch pur absolut fantastisch. Auf hohem Niveau gemacht, ist er das Beste der Welt. All meine Lieblingsmusik ist Groove-orientiert. Ich liebe Beat und Rhythmus.
intimacy-art: Wiederholungen.
JÄRVI: Es ist wie Trance.
intimacy-art: Womit wir beim Trip wären.
JÄRVI: Ja, das ist wie ein echt guter DJ-Mix im Club. So ist auch Adams Musik.
intimacy-art: Wie Techno?
JÄRVI:
Techno könnte zumindest auf Adams Level stattfinden. Techno kommt ja von der Minimal-Musik.
intimacy-art: Nachdem ich Sie nun studiert habe, würde ich sagen, dass Sie in der zeitgenössischen, freien Künstlerzone zuhause sind. Wurden Sie wegen der finanziellen Sicherheit Orchester-Chefdirigent?
JÄRVI:
Nein. Wollte ich Geld machen, wäre ich überhaupt nicht im Musikgeschäft. Ich möchte, dass man sich nach meinem Tod an mich als jemand erinnert, der in die traditionelle Orchesterszene einen neuen Stil des Dirigierens einführte und Dinge vermischte, die zuvor als unvermischbar galten. Als revolutionäre Tat sozusagen, da das eine sehr, sehr alte Institution ist: ein Museums-Orchester von über hundert Musikern, das niemand braucht. Außer wenn da lebendige Leute wie in einer Riesen-Rockband spielen, dann wird es für die Gesellschaft wieder relevant! Die einzige Art, wie es künftig und auch früher einmal funktioniert(e). Wäre Beethoven am Leben, und man spielte seine Sachen verschlafen wie “babababaaaaa (singt müde die 5. Sinfonie)", würde er durch den Konzertsaal schreien: “Stopp! So wird das nicht stattfinden! Niemand hat meine Musik so zu spielen!" Denn er war wie “BABABABAAAAAAAA! (singt fanatisch laut die 5. Sinfonie und hämmert dabei mit den Händen auf den Tisch)". Er war ein echter Rockstar! So muß daher seine Musik aufgeführt werden! Nicht, wozu sie die Tradition gemacht hat: als langweilige Hintergrundmusik. Dahin versuche ich nun auch mit meinem Tonkünstler-Symphonieorchester zu kommen, selbst wenn wir erst in den Startlöchern zum Rock-Symphonieorchester stehen.


(Interview-Auszug vom 3.2.2006, volle Länge in Print (Deutsch+Englisch) / Audio (Englisch) über
intimacy-art@gmx.at)