Tuesday, May 17, 2011

Jon Regen 2: "Oft hat jemand Fremder etwas sehr Tiefes mit dir gemeinsam"


Singersongwriter-Pianist Jon Regen und Schlagzeuger John Miller (photo © Elfi Oberhuber)

Warum reist der amerikanische Musiker JON REGEN so gerne nach Europa, um Live-Konzerte zu geben? Holen ihn seine europäisch-jüdischen Wurzeln ein? Oder ist das einfach nur Zufall, bei der Suche nach einem Markt, der noch außergewöhnlich gute Musik spielt und hören möchte? - Zweiter Teil des Gesprächs mit ELFI OBERHUBER. Für Einführung click Teil 1.


Vom amerikanischen zum europäischen Traum

intimacy-art: Sind die Bedingungen für einen Musiker in Europa und Amerika unterschiedlich?
REGEN: Ja, da gibt es einen sehr großen Unterschied. In Europa ist, glaube ich, die Musik die Show. Die Leute begeistern sich wegen der Musik. In Amerika tun sie das viel mehr wegen des Hypes, der aufgesetzten Geschichte, wegen des Happenings.
intimacy-art: So wie der Life Ball. (lacht)
REGEN: Der Life Ball ist etwas sehr Spezielles. - Genau aus diesem Grund arbeite ich ja die meiste Zeit in Europa. Die Leute mögen meine Musik und machen sich auf, um sie zu hören. In Amerika ist es viel härter, überhaupt bemerkt zu werden. Für die Werbung um die Leute mußt du sehr viel mehr Zeit investieren als du dann Zeit für die eigentliche Musikshow hast. Ich empfinde es als größere Anerkennung, für Musik-interessierte Menschen zu spielen. Und da das im Moment eher in Europa zutrifft, scheint das jetzt mein Markt zu sein.
intimacy-art: Ich halte das My-Space-Phänomen für einen Spiegel dessen, was Sie da sagen. Die Musiker müssen aktiv versuchen, mehr hörende Freunde zu bekommen und kommen aus der permanenten Akquisition gar nicht mehr heraus. Ein - amerikanischer wie europäischer - Musiker kann zwar froh sein, dass so etwas unter den gegebenen, massenmedial eindimensionalen Umständen existiert, andererseits ist es aber auch eine stressige Angelegenheit, nicht?
REGEN: My Space war sehr gut für mich, weil es einfach noch ein Platz war, um den Leuten meine Musik näher zu bringen. Es ist momentan für Musik-an-sich sehr hart, eine Vorführmöglichkeit zu bekommen, weil die unter vielen medialen Einflüssen stehenden Menschen kaum noch Zeit dafür haben. Wobei keiner mehr eine ganze CD anhört.
intimacy-art: Finden Sie? Ich höre mir im Internet gerade eine Minute etwas an, dann kaufe ich mir die CD und höre mir alles an.
REGEN: Da sind Sie bestimmt die Ausnahme. - Man muss also über jeden Platz froh sein, wo man seine Musik spielen kann, um Leute dafür gewinnen zu können. Wenn das aber die ganze Zeit beansprucht, wird es wahrscheinlich zum Problem. Andererseits haben Bands in der ganzen Musikgeschichte Posters aufgestellt. In diesem Sinne ist das einfach eine neue Technologie.
intimacy-art: Welchem Land fühlen Sie sich in Europa am nächsten?
REGEN: Ich habe kein Lieblingsland, verbringe aber viel Zeit in London, also England, Deutschland, Italien und Österreich. Die Leute sind hier sehr warmherzig und hören einfühlsam zu. Sie wollen in Deinen Kopf hinein und Deine Musik verstehen. Es ist ja schon gut für einen Künstler, wenn die Leute überhaupt reagieren und nur eine spontane Reaktion auf die Musikatmosphäre abgeben. Wenn dann noch etwas darüberhinaus zurück kommt, ist das großartig.


Jüdisch-europäische Wurzeln. Na und? Oder eben deshalb?


intimacy-art: Sind Sie jüdischer Herkunft?
REGEN: Ja, und zwar vaterseits österreichisch-ungarisch - aus der Zeit der Österreich-Ungarn-Monarchie - und mutterseits deutsch-russisch. Wo die Vorfahren genau lebten, weiß ich nicht genau, weil darüber niemand gesprochen zu haben scheint. Meine Großeltern waren bereits alle Amerikaner.
intimacy-art: Die Vorfahren gingen also um 1900 nach Amerika, nicht wegen des Zweiten Weltkriegs?
REGEN: Nein, obschon ich Verwandte hatte, die bedauerlicherweise zu dieser Zeit hier waren.
intimacy-art: Wissen Sie, zu welchem der zwölf israelitischen Stämme Sie gehören?
REGEN: Nein, das habe ich bisher nicht heraus gefunden. Entschuldigung.
intimacy-art: Demnach leben Sie nicht nach jüdischen Ritualen?
REGEN: Nein. Ich bin wohl stolz über meine familiäre Herkunft, fühle mich aber im Trennen von Menschen nicht sehr wohl, nach dem Muster, "du bist jüdisch, du bist katholisch, ..." Das ist etwas, das der Mensch macht und nicht der Geist.
intimacy-art: Gibt es in Amerika aber so etwas wie ein emotionales Band zwischen den Leuten, wenn sie von einander wissen, dass sie jüdischer Herkunft sind? Weil man ja sagt, dass sich die Juden gegenseitig helfen und deshalb in weltweiter Verbindung so stark sind - auch im intellektuellen Zusammenhang.
REGEN: Für mich sind wir alle dieselben, ob schwarz, chinesisch, jüdisch, buddhistisch, ... Ich bin stolz auf meine Eltern, weiß aber nicht, ob sie der Umstand, dass sie beide jüdisch sind, zusammen gebracht hat.
intimacy-art: Glauben Sie von sich selbst, dass Sie so etwas wie ein jüdisches Temperament haben? - Denn, wenn ich Sie spielen sehe, spüre ich, dass Sie so etwas haben: Sie spielen mit dem Inneren Ihres Körpers und nicht aus dem Kopf.
REGEN: Da, glaube ich, bin ich ein New Yorker. Das kommt nicht vom Judentum. Ich habe dem als Kind auch keine Achtung geschenkt, ob ich jüdisch bin. Obwohl ich mich anders fühlte im Gegensatz zu den Leuten rundum, die nicht jüdisch waren. Ich denke, Billy Joel ist jüdisch, und er ist ein Österreicher.
intimacy-art: Er schaut Ihnen ja auch optisch ähnlich.
REGEN: Ich denke aber echt, dass die New Yorker Energie mich so beeinflußt hat. Außerdem ist mein Vater ein Schreiber (Anm. Red.: er war ein erfolgreicher Werbetexter), meine Mutter eine Fotografin ...
intimacy-art: Aber Sie sind in New Jersey aufgewachsen, und da strömt eine andere Energie.
REGEN: Nun, abgesehen davon, dass ich mich gerade frage, ob das zu sehr in die 2. Weltkrieg-Debatte fällt, wenn wir darüber reden, wie intellektuell Juden sind. - Vielleicht hat es ja wirklich einen Einfluß, ich habe es nicht ausgeforscht. Ich bin jedenfalls ein Produkt meiner Umgebung und meiner Geschichte. Das könnte also sein.
intimacy-art: Ich möchte darüber sprechen, weil der amerikanische Nobelpreisträger und Hirnforscher Erich Kandel, gebürtig als Jude in Wien und im 2. Weltkrieg mit seinen Eltern emigriert, sehr wohl (demnächst auf intimacy: art) über die Eigenheit des Judentums spricht.
REGEN: Das ist schon interessant: denn wenn du als Jude in Amerika aufwächst, wurde Leuten meiner Generation immer gesagt, "du solltest nicht nach Deutschland, nicht nach Österreich gehen, denn da ... ba ba ba ...". Und dann finde ich hier eine Region vor, die mehr als andere Orte der Welt, wo man schreckliche Dinge verbrochen hat, nicht vom eigenen Schrecken davonrennt, sondern mehr Integration von anderen Kulturen, Rassen und Juden ... als jene anderen Orte betreibt, sich dem stellend, was vor vielen Jahren hier geschah. Das ist ein echter Versuch zu sagen, "wir können davor nicht davonrennen". Und es eröffnet auch bemerkenswerte Diskussionen in der Kunst, so etwas wie den Life Ball ... Es macht mir echt Freude, hierher zu kommen.


Wenn Europäer ihr Glück in den USA versuchen


intimacy-art: Kennen Sie umgekehrt österreichische Musiker in den Staaten?
REGEN: Joe Zawinul. Wen sollte ich noch kennen?
intimacy-art: Thomas Lang ist ein Schlagzeuger (siehe Interview mit Musiker Peter Paul Skrepek auf intimacy: art); er macht eher Rock.
REGEN: Den Namen kenne ich, ja.
intimacy-art: Er spielte mit Falco.
REGEN: Falco, ah gut.
intimacy-art: Dann war Wolfgang Muthspiel lange in Amerika.
REGEN: Oh, natürlich, ja.
intimacy-art: Nun eine ironische Frage: Mußten Sie die Europäische Gewerkschaft um Erlaubnis fragen, damit Sie hier in Österreich spielen dürfen?
REGEN: Welche Gewerkschaft, die hier?
intimacy-art: Die Frage kommt eigentlich von einem Wiener Musiker, der bei der amerikanischen Gewerkschaft um Erlaubnis fragen mußte, ob er in den Staaten spielen darf. - In Amerika muss man angeblich ja überhaupt Mitglied sein, um auftreten zu können und als Musiker anerkannt zu sein.
REGEN: Du mußt nicht, nein, höchstens, wenn du an bestimmten Orten spielen willst.
intimacy-art: Eben.
REGEN: Ich war ein Mitglied der Gewerkschaft, momentan bin ich es nicht, weil ich nicht mehr zahle. Ich habe über Jahre hinweg gezahlt, hatte aber nicht das Gefühl, dass man dort irgendetwas für mich tut.
intimacy-art: Und meine letzte Frage zum kontinentalen Gegenverhältnis: Mußten Sie Ihren Fingerabdruck am Zoll hinterlassen, um nach Europa reisen zu können?
REGEN: Wenn du nach Amerika einreist, mußt du das.
intimacy-art: Eben ...
REGEN: ... und momentan hab ich nicht mal einen Paß.
intimacy-art: Ja, weil man ihn Ihnen ja mitsamt der Geldtasche gestohlen hat (siehe Gespräch Teil 1)...


Von der genetischen zur musikalischen Heimat


intimacy-art: Was definieren Sie in Ihrem tiefsten Herzen als Heimat, sowohl in lokaler als auch musikalischer Hinsicht?
REGEN: Meine Heimat ist da, wo meine Familie und diejenigen, die mir nahe sind, leben: in der New Yorker Gegend. Und auf tieferer Ebene würde ich auch sagen, dass ich mich meiner amerikanischen Wurzeln besinne, selbst wenn ich ganz gern herausfinden würde, wo ich von der Gene her abstamme, um möglicherweise ein paar interessante Fragen beantwortet zu bekommen.
intimacy-art: Ich denke mir auch mit der Öffnung der EU in den Osten, wo immer mehr fremde Leute ins Land kommen, dass umso mehr Leute wie ich nach eigener Identität suchen. Und da muss man wirklich sehr genau suchen, um jemand zu finden, der dir sehr ähnlich ist. Sind Sie mehr angezogen von Menschen, die Ihnen ähnlich oder fremd sind?
REGEN: Oft hat ein sehr fremder Mensch etwas sehr Tiefes mit Dir gemeinsam. Ich mag Musiker und Leute, die mit einer gewissen Intensivität leben und in der Lage sind, darüber zu reden, wie sie fühlen. Ich kann nicht nicht über meine Gefühle reden. Das suche ich in Menschen. Aufrichtigkeit in einer ernsten Kommunikation.
intimacy-art: Und in musikalischer Hinsicht? - Könnte Ihre musikalische Sehnsuchtsheimat bei einer CD in Richtung Singer-Jazzsong-Writer gehen, so wie Sie es in Ihren Live-Konzerten sind?
REGEN: Darüber denken wir tatsächlich im nächsten Album nach.
intimacy-art: Echt? Ich merke nämlich jetzt wirklich, nachdem ich das dritte Konzert mit Ihnen erlebt habe und die Lieder von den CDs schon so verinnerlicht habe, dass Ihr Live-Auftritt mit der Jazz-Vermengung ein echtes Abenteuer für mich ist.
REGEN: Ich habe ja jetzt auch eine Band, mit der ich wirklich gerne arbeite. Ich muß dafür nur noch neue Lieder schreiben.
intimacy-art: Das Lustige ist, dass Ihr vom Text her oberflächlichster Song - wenn man das überhaupt sagen kann, denn Sie sind nie oberflächlich - "Only My Credit Card Remembers", im Konzert in musikalischer Hinsicht das höchste Niveau erreicht, wodurch er zu einer meiner Live-Lieblingsnummern wurde.
REGEN: Ja, der Spagat von "oberflächlich und nicht-oberflächlich" ist lustig.
intimacy-art: Sie spielen da wie ein Gott.
REGEN: Danke. Es ist tatsächlich so: dass ich eine musikalische Heimat mit den Leuten, Bassist P.J.Phillips und Schlagzeuger John Miller, erlebe, mit denen ich hier in Europa toure: in der Musik mit Ihnen mache ich Pop, Funk, Jazz, also nicht nur ein Genre.
intimacy-art: Sind sie dann auch auf dem neuen Album?
REGEN: Sie leben in London, das ist also nicht so einfach, aber definitiv ein Versuch wert.
intimacy-art: Bringen Sie Ihre exzellente The-Police-Interpretation von "How fragile we are" auch auf die neue CD?
REGEN: Nein, denn ich will keine Cover-Versionen auf eine Platte bringen. Meine Lieblingskünstler sind jene, die ihre eigene Musik schreiben, wie Billy Joel, Elton John. Selbst wenn ich live manchmal ganz gerne interpretiere. Weil das ein echt schönes Lied ist.
intimacy-art: Sie wollen Ihr eigenes Ding machen.
REGEN: Schon weil ich mir denke: wie kannst du eines Künstlers Song besser machen als er es tut - ganz besonders auf einem Album. Ich muß als Songschreiber noch einen langen Weg gehen, daran arbeite ich.
intimacy-art: Jazzer Kyle Eastwood, mit dem Sie ja spielten, hat ebenfalls einen The-Police-Song auf seinem Album. Wer von Ihnen beiden hatte zuerst dieses Faible für die Gruppe?
REGEN: Auf meinem Album spielt nur Andy Summers von The Police Gitarre. Ich habe auch nie mit Kyle über The Police gesprochen. Ich war nur mein ganzes Leben lang The-Police-Fan.
intimacy-art: Ich fand diese Parallele bei Ihnen beiden auffällig, aber auch Sting selbst hat ja eine Jazz-Ambition.
REGEN: Ja. Und das ist die Musik unserer Generation.
intimacy-art: Ich höre also heraus, dass Sie im Moment in der Musik zuhause sind, die sie gerade spielen. Haben Sie dennoch ein musikalisches Ziel?
REGEN: Ich bin noch nicht da, wo ich sein will, ich komme dem aber immer näher.

Singer-Songwriter-Pianist Jon Regen und Bassist P.J. Phillips, live im damals noch existierenden Wiener Birdland (photo © Elfi Oberhuber)

(Interview-Auszug vom 18.05.2008, volle Länge in Print (Deutsch+Englisch) / Audio (Englisch) über intimacy-art@gmx.at

Tuesday, May 10, 2011

Jon Regen 1: "Ich schreibe besser, wenn ich traurig bin"



Ein Amerikaner spielt bevorzugt in Europa: Jazz-n´-Blues-Singersongwriter JON REGEN. Weshalb scheinen ihn die Europäer tiefer zu verstehen, ihn, der besser schreibt, wenn er traurig ist? Warum schenkt das österreichische Life-Ball-ORF-Fernsehen diesem Verständnis keine Achtung? Und machen sich Bescheidenheit und Dankbarkeit für einen Ausnahmemusiker jemals bezahlt?
- ELFI OBERHUBER sprach mit dem Musiker nach seinen letzten Wien-Konzerten im Wiener Birdland und am Life Ball im Rathaus im Mai 2008, und bevor er am 18.5. 2011; 20h30, nach drei Jahren erstmals wieder in Wien (REIGEN) spielen wird. In diesem Gespräch gibt er den Arbeitsprozeß auf seine kommende CD Revolution preis, deren Lieder er neben seinen Hits mit seiner dreiköpfigen Tour-Band (mit Schlagzeuger John Miller, Bassist PJ Phillips aus London) präsentieren wird.

Jon Regen (photos © Elfi Oberhuber)

Kurzprofil JON REGEN
- (geb. am 8.5.1970 in New Jersey / USA, Sternbild Stier) ist für die Region Österreich so etwas wie eine intimacy: art-Entdeckung. Der New Yorker Pianist, Komponist und Sänger wird „Billy Joel des Souls“ genannt, wobei er das Jazzklavier in überdurchschnittlichem Maß beherrscht. Nach purer Jazz-CD Tel Aviv 2001, zweijähriger Tour mit dem legendären J
azzsänger Jimmy Scott und zuvor Bassist Kyle Eastwood, gründete er sein eigenes Trio mit Drummer Eric Addeo sowie Bassgrandiosum Jonathan Sanborn, Sohn des Saxers David Sanborn. Mit der Stimme eines Schwarzen, berührend-poetischen Texten in rhythmischen Songs sowie pianistischem Können beeindruckt Regen jeden, ob Mann, Frau, jung, alt. In der 2004 erschienenen CD Almost Home definiert er die Schnittstelle von Blues, Jazz und Song neu. Im April 2007 erscheint seine CD Let It Go, wo er mit den Kapazundern der Szene, Brad Albetta als Produzent, Ex-The Police-Gitarrist Andy Summers, Sängerin Martha Wainwright und Kami Thompson, Schlagzeuger Matt Johnson, Cellistin Julia Kent und Gitarrist Jimmy Vivino zusammen arbeitet. Er behandelt hier im Stil einer Fortsetzungsgeschichte das Thema "Verlust einer Liebe", sodass die CD sprichwörtlich ein musikalisch-literarisches Gesamtkunstwerk wird. (Siehe intimacy: art-Kritik MUSIK: MELANCHOLIE DES LOSLASSENS) Ende April 2011 steckt seine jüngste CD Revolution kurz vor den Vertriebsstartlöchern. Sie wirkt atmosphärisch fröhlicher, blues-rockiger und lockerer, ohne jedoch die für Regen typisch bittere inhaltliche Note zu verlieren. Die Co-Musiker sind hier: Andy Summers, Benmont Tench, David McAlmont und andere Stargäste, und Michael Brauer und John Porter mischen die Musik mit. Sie erscheint in Selbstproduktion mit dem Keyboarder-Produzenten Matt Rollings, gemastered von Greg Calbi bei Sterling Sound in New York. Für die intimacy: art-CD-Kritik siehe MUSIK: JON REGEN KOMMT MIT "REVOLUTION" WIEDER NACH WIEN, Hörbeispiele siehe http://jonregen.com/

JON-REGEN-BAND-LIVE-KONZERT IN WIEN: 18.5.2011 im REIGEN (U-Bahn-Station Hietzing), 1140 WIEN, HADIKGASSE, 20h30; sowie am 8.5.2012 ebenfalls im REIGEN WIEN


Karriere-Chance und Dank beim Life Ball

intimacy-art: Ich habe mir gestern im Fernsehen nur aus einem Grund den Life-Ball angesehen: um Sie zu sehen ...
JON REGEN
: ... und wir waren gar nicht im Fernsehen.
intimacy-art
: Genau. So denke ich mir: wenn man als Künstler für die Arbeit dort als Gäste-Unterhalter keine Gage bekommt, so sollte man doch zumindest im Fernsehen gezeigt werden. Ein Musiker wie Sie sollte dafür die Chance haben, im Nachhinein ein größeres Publikum für seine CDs gewinnen zu können. Das fände ich anständig.
REGEN
: Ich finde es in Ordnung, dass das dort verdiente Geld einem wichtigen Charity-Projekt zugute kommt. Es kostet uns zumindest nichts, hier zu sein. Und wir können aus wichtigem Grund mitfeiern, es mit Kunst anreichern.
intimacy-art: Wider solch großer Selbstlosigkeit könnte manch einer auf die Idee kommen, sich seinen Lohn anderweitig zu holen.
REGEN
(kryptisch): Sagen wir so, deine offene Brieftasche auf dem Klavier soll sich mit der Güte des Menschen auch in so einem Rahmen nicht messen ...
intimacy-art
: Warum ich so hoffnungsfroh war, Sie im Fernsehen zu sehen, lag aber eigentlich an etwas anderem: ich dachte mir, oh, nun treten da doch Künstler auf. Es wäre die Möglichkeit gewesen, den Life-Ball ästhetisch anzuheben.
REGEN
: Die Aufmerksamkeit der Fernsehregie liegt nun mal auf dem theatralisch dramatischen Teil. Vielleicht kommen wir aber nächstes Jahr dran, denn auch wir absolvierten eine Hoch-Energie-Show, die die Leute einschließlich unserer Musik sehr mochten.
intimacy-art
: Und wie entwickelt sich Ihre Karriere ohne Life Ball?
REGEN
: Bei unserem ersten Gespräch vor zwei Jahren standen wir noch am Anfang, spielten erst in ein paar Häusern. Heute arbeite ich viel mehr und investiere ich sehr viel Zeit, um Städte zu besuchen und einen entsprechenden Eindruck zu hinterlassen. Und mit dem international wachsenden Publikum an der eigenen Musik noch zu wachsen, ist das eigentliche Ziel.
intimacy-art: Ihre CD Let It Go gibt es ja schon auf dem asiatischen Markt, nicht?
REGEN
: Ja, die Asiaten mögen meine Musik. Der Vertrieb in Japan, wo ich mit Jimmy Scott auch live einmal gespielt habe, läuft seit Jänner.


Vom endlosen Loslassen in Let It Go

rechts: 2 Bilder mit Textausschnittes von Jon Regens Song
The Last Song
(letztes Lied auf der CD:
Let It Go, 2007)

intimacy-art: Die "Let It Go"-Musiktexte aller Lieder zusammen scheinen eine Fortsetzungsgeschichte zu ergeben, worin Sie noch nicht wirklich bereit waren, sich von einer Frau zu trennen ...
REGEN
: Ja, nur dass es nicht nur eine Frau war, sondern eine Reihe von ...
intimacy-art
: ... Frauen.
REGEN (stutzt)
: Hinter dieser scheinbar oberflächlichen Eitelkeit steckt eine Reihe an über lange Zeit zerbrochenen Beziehungen, deren jeweilige situative Stimmung in mir ich in den Liedern beschreibe. Sie schienen sich irgendwie alle zur letztlich vollständigen Geschichte zu ergänzen, während sich ihre Verläufe zwischen Liebe, Verlust und Verlorenheitsgefühlen ähnlich abspielten. Das alles war eine Periode in meinem Leben, die inzwischen einige Jahre her ist. Wenn die Platte rauskommt, entspricht der darin beschriebene Text ja nicht mehr deinem aktuellen Leben.
intimacy-art: Ich halte diese CD für so gelungen, weil man sie über Jahre ständig anhören kann. Sie ist in der Abfolge der Lieder und im Atem der Arrangements so stimmig, dass sie die Nerven des Zuhörers nie strapaziert.
REGEN
: An den Arrangements arbeite ich auch sehr hart. Am Sequenzieren, vom Anfang bis zum Ende. In Wahrheit hat mich diese CD ja fast umgebracht. Während eines ganzes Jahres Arbeit, war sie einfach nie ganz richtig. Alle Lieder noch mal zu remixen, das kostete sehr viel Zeit. Und ich höre noch immer, was alles zu verbessern wäre. Sie war für mich auch so wichtig, weil sie ein Neustart, eine Chance war, als Solokünstler am Piano oder im Trio zu singen und dabei verschiedene Farben zu verwenden, in einer bestimmten, ein bißchen angehobenen Balance zwischen Piano, Schlagzeug und Bass. Letztendlich bin ich aber doch sehr stolz auf die CD Let It Go, weil sie mich Geld, Entscheidungen und Zeit gekostet hat. Auf jene entfernte Zeit, wenn ich einmal leicht und freudig darauf blicken kann, bleibt noch zu hoffen.
intimacy-art: Schön ist ja: In den ersten Texten haben Sie eine Kraft, etwas Neues anzufangen, doch die Vergangenheit holt sie immer wieder ein und wirft sie als Schwachen zurück. Und am Ende ist "The Last Song" gar kein letzter Song, sondern das Gegenteil davon. Das hat viel schwarzen Humor und schildert von der Abhängigkeit des Menschen von seinen Erfahrungen, wobei die Flexibilität mit der Reife nachläßt.
REGEN
: Es gibt ja Leute, die eine Idee für ein Thema haben und darüber ein Lied schreiben können. Das kann ich nicht. In meine Musik fließt ein Teil meines Lebens hinein, sie ist absolut persönlich. Und so schreibe ich prinzipiell besser, wenn ich traurig bin. Einige Lieder dieser CD beziehen sich auf eine bestimmte Person, einige auf verschiedene Personen. Ich war auch mal verheiratet ...
intimacy-art
: War sie diejenige, die Sie mit "The Last Song" meinten?
REGEN
: Nicht absichtlich. Ich habe diesen Verlust aber einige Zeit in mir verhandelt. Bis ich jemand Neuen traf, und diese Trauer von mir abfiel. Und in I Come Undone schreibe ich über eine Freundin, die sich das Leben genommen hat.
intimacy-art
: Ja, ich weiß.
REGEN
: Ich habe gelesen, dass Sie das erwähnt haben. Obwohl ich es nicht gesagt hatte. Denn normalerweise spreche ich nicht darüber.
intimacy-art: Ja, es ist versteckt. Von Ihrer CD-Widmung aus ist es aber nachzurecherchieren. Wie ist das mit ihr gekommen?
REGEN
: Sie war eine Freundin aus meinen Zwanzigern. Wir verloren uns aus den Augen, sie heiratete, ich heiratete. Später kontaktierten wir uns wieder und wurden Freunde. Was dann passierte, konnte ich nicht absehen, niemand konnte das. Sie hatte so viele Interessen und so eine große Energie, die sie in Vielarbeit von Fotografieren, über das Betreiben einer Internetfirma bis zu Grafik fruchten ließ. - Ich liebe es ja, mit jemandem durchs Leben zu reisen; sprich, indem ich ihn, als ich jung war, eigentlich nicht so gut kannte, ihn aber nach zwölf Jahren wiedersehe, und nach Rückschlägen und Wiederaufstehen neu entdecke. Es war wirklich berührend, einander mit etwas mehr Falten im Gesicht wieder zu sehen. Und mit diesem Lied möchte ich von tiefem Herzen aus ihrem Geist erinnern. Ich wollte beschreiben, wie jemand plötzlich nicht mehr da ist, der in Deinem Inneren einen so großen Platz eingenommen hatte, sodass Du Dich dann selbst total verloren fühlst.
intimacy-art
: Im Live-Konzert haben sie das Lied kurzfristig dem verstorbenen Joe Zawinul umgewidmet.
REGEN
: Ja. Weil es auch ein universelles Gefühl beschreibt, das jeder teilt, wenn er jemanden verliert. Für mich war es aber doch eine einmalige Erfahrung, so etwas erleben zu müssen. Es hat mich sehr bewegt. Darüber zu schreiben hat mir am Ende geholfen und brachte mir die Erkenntnis, dass man sich nach dem Tod des Guten im Menschen erinnert. Nach langer Zeit denkt man an die lustigen und glücklichen gemeinsamen Momente. Die Lieder, die ich schreibe, sind im Affekt der erlebten Zeit zwar traurig, nach einiger Zeit wundere ich mich aber, ob das, was ich da singe, wirklich noch stimmt, weil es mittlerweile nicht mehr danach aussieht.
intimacy-art: Sind Sie also jetzt glücklicher?
REGEN
: Ja. Obwohl ich einen Freund zitieren muss, der sagt, "Fröhlichkeit ist eines Songwriters Albtraum". In Konfliktsituationen wie verrückten Beziehungen ringt man zwar sehr mit sich, schreibt aber gut. Meine jetzige Lebensgefährtin ist sehr umgänglich, und sehr stolz auf das, was ich mache. Und wenn ich auf Reisen bin, sehne ich mich sehr nach ihr.


Außerdem demnächst zu lesen in Teil 2: Vom amerikanischen zum europäischen Traum, jüdischen Wurzeln und dem Bewußtsein von einer musikalischen Heimat des Jon Regen mit Ausblick auf die Arbeit an der CD Revolution

(Interview-Auszug vom 18.05.2008, volle Länge in Print (Deutsch+Englisch) / Audio (Englisch) über intimacy-art@gmx.at

Friday, November 23, 2007

Fabrizio Cassol zu Susanne Linke & Alain Platel3: "Hoffnung liegt im Mysterium, warum wir leben"


Fabrizio Cassol (photo © Elfi Oberhuber)


Wie aus Häßlichkeit Schönheit wird, und wie Spiritualität als Religionsersatz das Leben verbessert, wo natürlicher Sex nicht fehlen darf - darum geht es im dritten Teil des Gesprächs von ELFI OBERHUBER mit den Tanz- und Musikkünstlern ALAIN PLATEL, FABRIZIO CASSOL und SUSANNE LINKE. Für Einführung und Teile 1, 2 scroll down!

Kurzprofil FABRIZIO CASSOL ist am 8.6.1964 in Ougrée/Belgien geboren (Sternbild Zwillinge). Schon während des kammermusikalischen Studiums mit Improvisation und Komposition am Konservatorium in Liège, wandte sich der frühausgezeichnete Saxophonist dem Jazz zu, was er bei Steve Coleman, Evan Parker und Joe Lovano intensivierte. Nach einer Reise in den afrikanischen Busch zum Stamm Aka pygmies gründete er 1992 mit Bassist Stéphane Galland und Schlagzeuger Michel Hatzigeorgiou Aka Moon, bis heute Cassols Hauptband im Bereich Jazz, Rock, Weltmusik und Avantgarde (einschließlich Elektronik). Daneben werkt(e) Cassol in acht Bands, darunter seit 2004 auch bei DJ Grazzhoppa's DJ Big Band (Hörprobe), wo er als Solo-Saxofonist zu 12 Computer-DJ´s live spielt. Doch auch mit Aka Moon (www.akamoon.com) erkundet Cassol neue Wege: die afrikanische Inspiration erweiterte sich zur Indischen, Kubanischen, zum Tanz (etwa für Rosas als Residence-Musiker an der Brüsseler La Monnaie/De Munt), zum Theater (KVS: Royal Flemish Theatre) und zur Oper (Luc Bondys und Philippe Boesmans Oper Wintermärchen - Hörprobe). Für V.S.P.R.S. von Alain Platels Les Ballets C. de la B., bearbeitete Cassol Monteverdis Barockoper Vespers (Hörproben), live gespielt mit dem barocken Oltremontano & Aka Moon sowie Jazz-SolistInnen (u.a. Tcha Limberger - Flöte/Geige). Die CD ist für den Belgischen Klara Musikpreis 2007 als beste CD des Jahres nominiert, der Sieger wird am 1. Dezember 2007 verkündet. Zuletzt erschien von Aka Moon die 19. CD Amazir (Hörprobe). Cassol unterrichtet an Musikuniversitäten (Etterbeek Musikakademie), erfand 2001 mit dem Instrumentenbauer François Louis das zweistimmige Sopransaxofon Aluchrome, nachdem er 1998 mit dem Belgischen Goldenen Django zum besten französischsprachigen Künstler gekürt worden ist.


Von der häßlichen Deformierung zu filigraner Schönheit

intimacy-art: Wie läßt sich etwas Häßliches wie "Deformierung" - was vom Leben als "angekränkelt" weg und hin zum Tod zu führen scheint - in etwas Schönes verwandeln?
SUSANNE LINKE: Die Kunst des Tanzes liegt an sich in der Klarheit, nicht im Tanz selbst. Die Idee dahinter muß klar sein. Dadurch tritt erst die Schönheit zutage. Sie passiert als fragiler Moment, wenn es auf der Bühne zu transzendentaler Spiritualität kommt. Spiritualität und Klarheit des Gedankens hängen zusammen. Häßliche Stellungen und Haltungen sucht man dabei nicht bewußt. Sie entstehen durch das innere Gefühl für ein Thema. Sollte sie ein Außenstehender, abgeleitet von "der üblichen Pose", nicht als "schön" bezeichnen, so kann dieser sie doch als schön empfinden, wenn sie technisch perfekt ausgeführt wird.
intimacy-art: Sie gelten diesbezüglich als Phrasierungskünstlerin, die jede Geste zur Gänze ausführt. Das soll Ihre auratische Schönheit ausmachen.
LINKE: Wahrscheinlich, ja. Es ist eine Technik des Körpers. Und ich praktiziere sie mehr denn je.
ALAIN PLATEL: Vielleicht stimmt das mit der Purifikation, der Reduktion auf Klarheit, ja, ... (überlegt) ... eigentlich weiß ich es aber nicht.
FABRIZIO CASSOL: Ich denke, Alain schafft den Akt der Purifikation, indem er mit größerer Aufmerksamkeit gegenüber den Leuten arbeitet als sonst jemand, gegenüber dessen, "wer sie sind, was sie fühlen".
intimacy-art: In der Aka-Moon-V.S.P.R.S.-CD habe ich aber auch bei Ihnen wunderschöne, pure Musik-Momente gefunden.
CASSOL: Hmm ...
PLATEL: Glücklicherweise ist sich Fabrizio dessen nicht bewußt. - Sagen Sie es ihm nicht!
CASSOL: Eines weiß ich aber: in Musik und Tanz verläuft das mit der Schönheit unterschiedlich. Geht man davon aus, dass die Schönheit an Harmonie gebunden ist, dann entspricht die Harmonie der Balance von Spannungen. Fordert Alain eine Tänzerin auf, mit ihrem Körper etwas zu repräsentieren, das in ihr arbeitet, ist das aber ein völlig anderer Prozeß als in der Musik. Das zeigt sich am Ende, indem wir innerhalb des eingespielten Teams nicht einfach einen Musiker austauschen können. Bei Alain drücken sich die Tänzer stets durch sich selbst aus, oder er bringt sie dazu, alles von gegensätzlicher Seite aus zu betrachten - das finde ich wiederum spirituell.
PLATEL: Meine größte Schwierigkeit bei dieser Frage ist, dass ich eigentlich nur sehr wenige Dinge häßlich finde. Also so, dass ich "wäääähhhh" schreie. Mir graust, wenn jemand während einer Operation einen Körper aufschneidet. Andererseits ist es fesselnd zu abstrahieren, wie wohl das Material unter der Körperöffnung ausschauen mag. Wenn Leute von häßlichen und schönen Bewegungen sprechen, frage ich mich stets, was sie damit meinen. Trotz Wissens, dass manche Bewegungen als häßlich angenommen werden, weil sie das Gegenteil eines gefällten Klassifizierungsurteils von "schön" sind. Um jene fürs Publikum akzeptabler zu machen, mußt du es dazu bringen, anders darauf zu schauen. Wahrscheinlich durch Beifügung anderer Spannungen. Musik kann sehr zur Akzeptanz beitragen, besonders Fabrizios "Barockmusik". Einige Bewegungen der Tänzer würden mit anderer Musik vielleicht als häßlich empfunden werden. Selbst wenn es mancher sicher auch so noch für "extrem" hält.
intimacy-art: Sie haben auch den Ruf, geschmackvoll zu arrangieren, selbst wenn die Leute auf der Bühne emotionale Grenzen überschreiten.
PLATEL: Ich würde sie nie darum bitten, etwas sehr Irres oder Extremes zu machen. Meist werde ich davon inspiriert, was sie mir vorschlagen. Das akzentuiere ich dann mit Vorschlägen. Ich weiß aber, dass bisher in jeder Produktion in jedem von uns etwas geschehen ist, wo wir unsere Grenzen jeweils ein wenig mehr überschritten haben. Doch selbst wenn manches momentan schmerzvoll oder schwierig war, war es in Summe letzenendes nicht schlecht, weder psychisch noch physisch. Das erfahren wir bei jedem Auftritt als wachsender Prozeß...
CASSOL: Ich mag an Alain, dass er im Bereich der Harmonie, der Balance an Spannungen, am weitesten geht.
PLATEL: ... Ich achte aber sehr darauf, dass sich die Akteure nicht aus reinem Selbstzweck oder bis zur Selbstverletzung verausgaben. Das möchte ich keinesfalls, weder auf der Bühne sehen, noch Teil davon sein. Dass Leute ihre Grenzen überschreiten, macht mir dagegen keine Probleme. Musiker tun das auch, indem sie Dinge auf der Bühne machen, die sie zuvor nie machten. Und auch sie sind dabei nicht unglücklich.
CASSOL: Wenn normalerweise Tänzer springen, kommen sie danach wieder zurück auf die Erde. - Wenn Musiker springen, kommen sie danach nicht zurück. Du kannst als Musiker springen, springen, springen, immer weiter... Du stehst zwar mit deinem Körper da, innen drin kannst du aber immer weiter abtriften. Sehr weit. Wenn Musik auf Tanz trifft, ist das das erste große Problem. Nur bei Alain ist es anders: Seine Tänzer kommen nicht auf die Erde zurück. Er hat die Fähigkeit, alles in ständiger Spannung zu halten. Und das ist dann echt inspirierend für die Musiker, selbst wenn es ein nie fertiger, täglich neuer Knochenjob ist. Auch, weil er in der langsamen Bewegung arbeitet, in Details. Das erhöht die Spannung noch. Andere - wie oft im Ballett - springen, springen, wie verrückt, zum oberflächlichen Staunen der Zuschauer. Echtes Staunen wie bei Alain ist dagegen rar.

Susanne Linke (photo © Elfi Oberhuber)


Neues Wort für eine undogmatische Völkerreligion

intimacy-art: Sie bezeichnen Monteverdis Musik als dogmatisch besetzt: Indem die Religion am Ende der Sinn des Stücks ist. Sie dagegen bringen Spiritualität in den Weg und die Art des Erzählens...
PLATEL: Ich mag sehr, wie Sie das erklären: nicht als Ziel die Religion zu haben, sondern auf dem Weg...
CASSOL: Ich bevorzuge die Spiritualität der Menschheit gegenüber der Religion. Zu Monteverdis Zeiten wurden Menschen ohne Wahl ihres ureigenen Glaubens geboren, sie waren automatisch katholisch, selbst wenn sich schon in dieser Periode ein komplexerer Christenkult abzeichnete, angefangen vom Protestantismus. Das steckt auch schon im originalen Vespers. Ob Monteverdi selbst eine Wahl bezüglich seines Glaubens hatte, weiß ich nicht, doch war Mozart zumindest schon freier als Bach. Und sobald Menschen freie Wahl im Glauben haben, öffnen sich für sie weitere Türen. Umgekehrt wird ein Dogma heute als viel härter empfunden als in Monteverdis Zeiten. Selbst wenn man früher praktisch tot war, wenn man anders als die Gemeinschaft glaubte.
intimacy-art: Wie brachten Sie die erdige Spiritualität konkret in die Musik? Ist es der Jazz, die ethnische Art, wie Sie damit umgehen?
CASSOL: Das Ethnische bezog sich zunächst auf die Lebensrealität der Tänzer, wo einer aus Brasilien kommt, der andere aus Argentinien, einer von Neuseeland, von Korea, von Vietnam, aus Frankreich, usw.. Anfangs arbeiteten sie zur originalen Monteverdi-Version, sodass ich nach einer Weile wußte: es muß ein anderer Sound her, der wirklich zu den Tänzern paßt. Sonst wäre es für mich wie eine koloniale Konvertierung gewesen, diese Leute aus aller Welt in einen gleichen, westlichen Sound zu stecken. Daher die Notwendigkeit, diese Musik ethnisch zu transformieren, wobei ich auch jede einzelne Textphrase entdogmatisierend umschrieb.
intimacy-art: Können wir also sagen, dass diese Musik für eine übergreifende Religion steht, wo alle Religionen in Frieden zusammen finden?
CASSOL: Nein, ich hoffe, es kommt nicht als eine Religion daher. Wobei sich das Paradoxon ergab: Je mehr ich Musik und Text entdogmatisierte, desto mehr wollte ich von den Sängern verstehen können, worüber sie sprachen, selbst wenn es Latein ist. Dabei sollten sie zur anfänglichen Idee des Textes zurück finden...
intimacy-art: Gibt es also noch eine Religion in der Neufassung V.S.P.R.S., oder nicht?
CASSOL: Es ist wie in der Malerei. Wir hatten die erste, die zweite, die dritte Periode, und jetzt sind wir auf dem Weg zur vierten Periode. Die Musik Monteverdis wurde zu religiösen Diensten geschrieben, was ich in der ersten Periode ablehnte. Nun, in der vierten Periode, kommen wir mit jedem kleinen Detail von Alains Tanzqualität zurück zu den religiösen Diensten, nur nicht im katholischen, muslimischen oder hinduistischen Sinn: sondern auf eine neue Art. Und ich denke: In diesem Stadium sollten wir ein neues Wort für den "religiösen Dienst" erfinden, um all den negativen Konnotationen zu entgehen ...


Ekstase im Leben, Nichts nach dem Tod - oder doch noch was ...

intimacy-art: Spielen in dieser neuen "Spiritualreligion" Ekstase und Sexualität eine Rolle?
PLATEL: Wir haben bald entdeckt, dass das in diesem Kontext mitspielen muss, und zwar auf natürliche Weise. Viele Leute interpretieren manche Zeichen der Performance als sehr sexuell, sodass wir im Zusammenhang mit Gebet und Religion einen Clash erhalten. So empfinden es manche - allerdings eher von außen als von innen. Eine Szene wird von der Presse mit "kollektiver Masturbation" benannt, die wir "gemeinsames Zittern" nannten. Selbst wenn jeder wußte, dass die Haltung dabei der Selbstbefriedung entlehnt ist. Es steht aber für mehr als das.
intimacy-art: Für einen höheren, verbindenden Geist der Gemeinschaft?
PLATEL: Ja. Ansonsten gibt es Momente, die ausdrücklich sexuell sind. Doch würde man sie stoppen, wären sie schwindend kurz. Nur in den Augen des Betrachters werden sie riesengroß.
intimacy-art: Liegt in diesen Momenten aus genau diesem Grund der Sinn des Lebens? In den herausfordernden Erregungskicks und der gemeinsamen Entspannung danach?
PLATEL (nickt): Prinzipiell glaube ich, jeder Mensch sucht in seinem Leben Beweise für die Tatsache, dass er lebt. Die kannst du dir schaffen, indem du etwas kreierst, Frauen können als glücklich Bevorzugte Kinder gebären. Jeder sucht etwas, womit er seine Unterschrift hinterlassen kann, um zu sagen: Ich war da.
intimacy-art: Den Berg aus Unterwäsche von Bühnenbildner Peter De Blieck interpretiere ich als Berg dieser "Unterschriften", auf dem die letzten Tänzer im Stück die Leichen der anderen zusammentragen. Und alles endet hoffnungslos.
PLATEL: Ja, mit dem Massensterben entkräfteter Menschen. Doch in der Musik bleibt die Hoffnung. Daran glaube ich auch sehr. Selbst wenn auf der Bühne (lacht) nicht mehr viel übrig ist.
CASSOL: Für mich lebt der Berg sehr wohl. Schon weil auf der Bühne naturgemäß alles lebt. Alles lebt: als Symbol.
PLATEL: Nein, ich denke, der Berg ist das Ende und damit der Tod. Nichts gibt´s dahinter. Deshalb soll man ja bestenfalls im Leben spi/rituell leben.
CASSOL: Oh nein, auch dahinter lebt etwas, etwas sehr Geheimnisvolles. Dafür steht auch die Musik: für das Mysterium, warum wir überhaupt auf der Welt sind ...

...und darüber wird noch bis in alle Ewigkeit gestritten werden... Emen.


l: Alain Platel, r: Fabrizio Cassol, (photos © Elfi Oberhuber)

(Interview-Auszug vom 4.+6.6.2007, volle Länge in Print (Deutsch+Englisch) / Audio (Deutsch+Englisch gemischt) über intimacy-art@gmx.at)

Monday, September 17, 2007

Alain Platel zu Susanne Linke & Fabrizio Cassol2: "Glück kennt weder Gesunder noch Behinderter"


Alain Platel (photo © Elfi Oberhuber)


Im zweiten Teil des Gesprächs von ELFI OBERHUBER mit den Tanz- und Musikkünstlern ALAIN PLATEL, FABRIZIO CASSOL und SUSANNE LINKE, geht es um ihre verblüffende Einstellung zum Selbstmord. Ob er - wie das Glücksgefühl - dem Gesunden näher liegt als dem Behinderten, ist zunächst ein Streitfall, löst sich aber in einer Erkenntnis auf... Für Einführung und Teil 1 scroll down!

Kurzprofil ALAIN PLATEL (geb. 9.4.1956 in Gent in Flandern/Belgien, Sternbild Widder) - Im Grenzübertritt von Tanz, Theater, Musik und bildender Kunst gilt der Regisseur, Choreograf und Tänzer neben Wim Vandekeybus und Anne Teresa De Keersmaeker als wichtigster Tanz-Company-Gründer Belgiens. In Wolf (UA Ruhrtriennale 2003) machte er endgültig sein Image als "genialer Motivierer, Angstnehmer und Seelenbefreier" populär, indem bei ihm enthemmte und doch durch Ironie geschützte Darsteller in extreme Gefühle ausbrechen. In Verbindung von "Sozialreportage mit der Albernheit eines Kindergeburtstags" kombiniert er viele Geschichten wie ein Zirkusjongleur, aber stets auf höchst virtuosem Niveau. Die Feinfühligkeit im menschlichen Umgang holte er sich während seiner ersten Ausbildung zum Heilpädagogen, wonach er fünf Jahre schwer behinderte Kinder betreute. Parallel studierte er Ballett und Modern Dance. 1984 gründete Platel mit den Tänzer-Choreografen Koen Augustijnen, Christine de Smedt, (und später) Sidi Larbi Cherkaoui (statt Hans Van den Broeck) das Tanzkollektiv Les Ballets C. de la B., das im Sinne von "die Struktur dient der Kreation und nicht andersrum" den Mitgliedern sämtliche Freiheiten lässt, in jeder erdenklichen Funktion und anderswo zu arbeiten. Internationaler Durchbruch mit Lets op Bach, weitere Welterfolge: V.S.P.R.S. (2006 nach Claudio Monteverdi & im Juni 2007 zu Gast in Wien), Allemaal Indiaan (1999), La Tristeza Complice (1995), Bonjour Madame (1993) und Emma (1988). Etliche Auszeichnungen, darunter der Europäische Theaterpreis 2006 für sein Lebenswerk. Vom 22.-25.7.2008, 20h, war geplant, dass Alain Platel in Kooperation mit ImPulsTanz für das Theater an der Wien eine neue Produktion kreiert, stattdessen kommt aber Kanadierin Marie Chouinard am 22.+24.7.2008, 20h30 mit ihrer weltberühmten Kompagnie mit Orpheus and Eurydice. Hundertprozentig auch gut!

- Kritiken zu den zwei Gast-Aufführungen von Alain Platel in Wien sind auf intimacy: art (www.intimacy-art.com) in REALNEWS / CRITIC / Archive: Juni 2007, Titel: ALAIN PLATEL UND FABRIZIO CASSOL MIT ETHNO-BEHINDERTENWERK "VSPRS", scroll down!, sowie Juli 2007, Titel: ALAIN PLATEL MIT SEINEM RÜHRENDEN LACH-SCHOCKER "NINE FINGER", scroll down!


Selbstmord ist gegenwärtig wie die Einstellung auf den Tod

intimacy-art: Verstehen Sie Menschen, die sich das Leben nehmen?
LINKE: Sehr gut. Ich selbst wollte mir noch nie das Leben nehmen, doch denke ich täglich über den Tod nach.
PLATEL: Selbstmord paßt absolut in meine traurige Denkensart.
intimacy-art (lacht)
PLATEL: Ich meine, ich würde es nie tun. Aber ich stelle mich oft aufs Sterben ein. In stillen Momenten denke ich: "Was wäre, wenn jetzt ..."
intimacy-art: Wann hat das begonnen?
PLATEL: 2003.
intimacy-art: Warum?
PLATEL: Weil ich da eine wundersame Erfahrung mit einem Typen hatte, mit dem ich das Gymnasium besucht und den ich seitdem nicht mehr getroffen hatte. 2003 kam die Nachricht, dass er sterben würde. Vorher wolle er mich noch sehen. Ich probte gerade für Wolf und ärgerte mich, "fuck, warum ausgerechnet jetzt? - Ruf mich nicht an, wenn du stirbst!"
intimacy-art (lacht)
PLATEL: Aber natürlich geht man hin. Und die zehn Minuten in dem Zimmer waren dann ein heiliger Moment. Ich fühlte und sah, dass er wirklich starb. Er hatte Fieber vom Krebs, zitterte und sagte nur: "Ich halte es für nötig, dir mitzuteilen, dass du für mich zwischen 12 und 18 sehr wichtig warst. Ich mochte deine Anwesenheit sehr." - Dabei hatte ich ihn nicht einmal wahrgenommen, geschweige denn, dass ich starke Erinnerungen an ihn hatte. Am nächsten Tag war er tot. - Seitdem stelle ich mich auf den Tod ein.
CASSOL: Ich dagegen frage mich: Was passiert mit der Seele? Wo ist überhaupt meine Seele? - Und für viel härter als Selbstmord halte ich die Vorstellung, dass Gott dir Dinge gibt, er sie aber von einer Sekunde auf die andere wieder zurück nehmen kann. Allein der Gedanke, mein Sohn müßte jetzt sterben, löst entsetzlichen Schrecken in mir aus. Ich wüßte nicht, ob und wie ich das verkraften könnte. Oder würde ich sterben - hätte mein Sohn genug Kraft, um weiter zu leben? Daran denke ich oft. Auch daran, die Inspiration zu verlieren ...
PLATEL: Das ist das Schlimmste, ja.
CASSOL: ... wie ich dann wohl mein Leben neu strukturieren könnte. Daran denke ich jeden Tag.
intimacy-art: Ja, das klingt sehr traurig. (lacht)
CASSOL: Nein.
PLATEL: Das geht über die Traurigkeit hinaus. Zu wagen, in diese Richtung ohne Angst zu denken, ist einfach der Versuch einer Vorstellung deines eigenen Todes, und wie er sein könnte. Darüber nachzudenken, was eine Person ist, die sich umbringt, wo für sie die Herausforderung liegt, wo die Feigheit? Und physisch an einen Körper zu denken, der stirbt, ist sogar fesselnd.


Vom Wissensexperiment zum leichtfertigen Wegwurf des Lebens

CASSOL: Das erinnert mich an eine Clique vor zehn Jahren. Diese sehr jungen Leute dachten naiv, aber intensiv über das Wesen von Leben und Kunst nach, Geld und Geschäft interessierte sie nicht. Einer von ihnen war ein echt starker Typ, fit, in guter körperlicher Kondition, und mit 18 entschied er zu sterben. Er schmückte den Garten mit Rosen, legte sich nieder und von einer Nacht zur anderen, verließ seine Seele den Körper.
intimacy-art: Nahm er Drogen?
CASSOL: Nein, nichts. Nie. Nicht einmal, wenn seine Freunde welche nahmen. Er sagte: ich war auf dieser Welt, um zwei, drei Dinge zu erledigen, das habe ich getan, jetzt gibt es keinen Grund mehr für meinen Körper, weiter zu machen. Das war für alle ein Schock. Dass so ein junger Mensch einfach sein Ende beschließt und ohne klinische Begründung stirbt.
LINKE: Bei so jungen Leuten halte ich Selbstmord für schade. Prinzipiell sollte der Mensch dafür eine geistige Ebene erreicht haben. Wie und warum - das ist dabei die große Frage.
CASSOL: Es war aber kein Selbstmord.
intimacy-art: Aber er wollte doch sterben.
CASSOL: Er bereitete alles vor, auch für seine Eltern ...
intimacy-art: Würden Sie sagen, dieser Junge war reif genug, um seinen Tod zu beschließen?
CASSOL: Nun, die Eltern waren traurig. Die Freunde waren es in dieser Cliquen-Gesinnung nicht. Sie richteten alles für das Begräbnis her, um seiner Seele zu helfen, weiter zu leben. Die Kirche war gesteckt voll...
intimacy-art: Das ist der reinste Werbefeldzug für den Tod...
PLATEL (lacht)
CASSOL: Nun, in diesem Fall ging es auch um Wissen.
intimacy-art: Der Freitod scheint momentan eine Art von dekadenter Mode zu sein. Ich denke, so ein junger Mensch idealisiert die "so genannte" Transformation, er verschenkt sein Leben für ein leichtsinniges Experiment.
CASSOL: Für mich persönlich ist die Mystik der Seelen jedenfalls das größte Phänomen der Welt. Für wirklich gefährlich halte ich nur Leute, die im Internet Selbsmorde organisieren. Das ist wirklich schrecklich und unreflektiert.

l: Alain Platel, r: Fabrizio Cassol, (photo © Elfi Oberhuber)


Gesunde und Behinderte - gleiche Ängste, andere Zufriedenheit

intimacy-art: Sie sagten, manchmal würden Sie gerne geistig behindert, um fröhlicher zu sein. Glauben Sie, dass das für einen Behinderten leichter ist, weil er mit seinem Schwächepunkt genau weiß, wogegen er ankämpfen muss?
PLATEL: Nein, ich habe nie einen Behinderten getroffen, der mit seiner Behinderung glücklich war. Es gibt nur Einzelne, die etwas damit verbinden können und dann zu so etwas wie innerer Balance finden. Unser Geiger Tcha (Limberger) zum Beispiel, sagte auf meine Frage, ob er sich vorstellen könne zu sehen: "Nein, das möchte ich erst gar nicht versuchen." - Er hat also einen Weg gefunden, der ihn unter seinen Umständen glücklich macht, ist aber an sich nicht glücklich darüber, blind zu sein.
LINKE: Die emotionale Empfindung hat mit Bewußtsein und Selbstbild zu tun. Ich konnte bis sechs ja nicht sprechen. Und bis dahin war ich mit meiner Stummheit eigentlich ein sehr glückliches Kind, da ich mich selbst nicht als behindert gesehen hatte. Meine Familie war in christlich-lutherischer Erziehung sehr tolerant und sah, dass ich vieles durch mein Bewegungsgeschick wettmachte. Dann kam ich doch ins Sprechheim, wo ich in eineinhalb Jahren bei intensiver logopädischer Lehre sprechen lernen mußte. Das war für mich sehr mühsam, weil ich aus dieser Welt eigentlich nicht heraus wollte. Wie bei Helen Keller, die auch noch blind und taub war und sich dagegen wehrte, etwas lernen zu müssen. Man baut sich eine Welt auf und will gar nichts Neues kennen lernen. Erst eine sehr starke Autorität schafft es, einen dazu zu zwingen. Und wenn man diese Person nicht akzeptiert, ist es nur ein Kampf. Man ist dann in einem Tunnel. - Deshalb habe ich mir später in der Kunst in Form von schwierigen Stoffen bewußt solche Tunnel gesucht, um Klischees auszuweichen. Ich wollte nicht nur - wie sonst als Frau im Tanz - entweder eine Hexe, Hure oder ein Engel sein. Dieses Bewußtsein kommt also wahrscheinlich aus meiner frühkindlichen Stumm-Zeit.
PLATEL: In der Kinderzeit liegt der Unterschied. Behinderte Kinder haben auch noch Hoffnung. Als Erwachsener weißt du, was irreparabel ist. Das erfährt ein Kind nicht so. Wenn es dann älter wird, besonders in der Teenager-Zeit, beginnen die Probleme. Da gibt es wirklich niemanden, der hier in Balance ist. Eine Begegnung schockierte mich, als ich mit 18 im Behinderten-Institut arbeitete. Ein 16-jähriger Spastiker - im Rollstuhl und schwerst sprechbehindert - fragte mich, ob ich mir vorstellen könne, dass sich ein Mädchen in ihn verliebe und ihn heiraten würde. Ich sagte, "wenn ich du wäre ..." Und er sagte: "Bist du verrückt? Ich kann mir ja auch nicht vorstellen, normal zu sein. Wie kannst du es wagen, dich mit mir zu vergleichen?" - Das hat meine Einstellung verändert. Wenn ich sage, ich würde gerne ein bißchen geistig behindert sein, ist das als Metapher gemeint. Natürlich würde ich das nie sein wollen. Es muss wirklich hart sein, mit einer Behinderung durchs Leben zu gehen.
LINKE: Ich glaube dennoch, dass es wahrscheinlich leichter für einen Behinderten ist, eine Lebensqualität zu finden, weil er durch ein gewisses Leid gegangen ist. Geht alles im Leben nur glatt, weiß derjenige meist nicht, was er daran hat. Der "Geschwächte" hat ein konkretes Ziel und Thema, dessen er sich bewußt ist, was ihm hilft zu empfinden, dass das Geschaffte bzw. Erschaffte ein Geschenk ist.
intimacy-art: Besucht Alain Platel deshalb so gerne psychiatrische Museen - um dankbar zu sein?
PLATEL: Nicht direkt. Es fasziniert mich, dass ich auf der anderen Seite der "Gesunden" nie jemanden getroffen habe, der sich vollkommen perfekt fühlte. Jeder hat auf eine gewisse Weise eine Behinderung, und zwar mehrere. Und so versuche ich, an diese extremen Beispiele heran zu gehen, um die Verbindung zu den Erfahrungen von jedermann herzustellen. Ich hoffe, dass die Leute bei V.S.P.R.S., wofür ich in solchen Stätten recherchierte, nicht an kranke Leute denken, sondern: "Oh, das bin ja ich! - Nur in einer extremen, sehr tiefen Form." Nur deshalb sind die Leute ja berührt, nicht weil sie "Behinderte" (Anm. Red.: Tänzer, die Behinderungen nachahmen) auf der Bühne sehen.




Lesen Sie in Teil 3 bald auf dieser Site: Wie Alain Platel, Fabrizio Cassol und Susanne Linke aus "Häßlichem" schönste Kunst mit Aura machen, und wie sich Religion und echte Persönlichkeiten in Musik und Tanz ausdrücken.

Susanne Linke (photo © Elfi Oberhuber)


(Interview-Auszug vom 4.+6.6.2007, volle Länge in Print (Deutsch+Englisch) / Audio (Deutsch+Englisch gemischt) über intimacy-art@gmx.at)

Monday, July 23, 2007

Susanne Linke zu Alain Platel & Fabrizio Cassol: "Transgression hilft, den Tod zu ertragen", Teil 1


Susanne Linke (photo © Elfi Oberhuber)


Nachdem sich in letzter Zeit die Selbstmorde unter jungen, viel-beauftragten Künstlern häuften, scheint es ELFI OBERHUBER interessant, zwei Menschen, die als Choreografen und Tänzer ganz nah an Körper und Seele dran sind, zu fragen, wie sie über das - gegenwärtig kranke? - Leben und den (Frei-)Tod denken: die im Juli im Wiener Volkstheater zu sehende deutsche Ikone SUSANNE LINKE und der belgische Top-Regiestar ALAIN PLATEL. Einen wichtigen Input gibt überdies der belgische Jazz-Saxophonist und Komponist FABRIZIO CASSOL, der mit Platel anläßlich der internationalen Erfolgsproduktion V.S.P.R.S. (im Juni 2007 am Theater an der Wien) zusammen arbeitet.

Kurzprofil SUSANNE LINKE (geb. 19.6.1944 in Lüneburg/Deutschland, Sternbild Zwillinge) erlangte als Solotänzerin und Choreografin Welt-Bedeutung, da sie das Erbe des deutschen Ausdruckstanzes der Vorkriegszeit und das zeitgenössische deutsche Tanztheater vereint. Zum Tanz kam sie erst mit zwanzig, in Folge einer frühkindlichen Sprachstörung, wonach sie mit sechs Jahren sprechen lernte und den Willen aufbrachte, der realen Welt zuzuhören. 1964 Tanzunterricht im Mary-Wigman-Studio in Berlin. Begegnung mit ihrem Vorbild Dore Hoyer. 1967 Studium an der Folkwang-Hochschule und ab 1970 Tänzerin in Pina Bauschs Folkwang-Tanzstudio, das sie ab 1975 gemeinsam mit Reinhild Hoffmann für zehn Jahre selbst leitet. Seit 1970 choreografiert Linke: ausgezeichnet wurden 1975 Danse funèbre, Puppe? und Trop Trad. Ab 1985 freie Choreografin, u.a. für José Limón Company in New York, die Pariser Oper und das Nederlands Dans Theater, sowie internationale Solokarriere, die mit Schritte verfolgen über ihre fünf Lebensabschnitte "Sensenmann, Kindheit mit Psychiatrie, Tänzer-Träumereien, Adoleszenz und Gustav-Mahler-Finale" beginnt. Dieses Stück erlebt 2007, getanzt neben Linke (als Alterserscheinung) von vier Tänzerinnen, eine Rekonstruktion - zu sehen am 31.7.2007 beim Wiener ImPulsTanz-Festival im Volkstheater, 21h. Anfang der Neunzigerjahre gründet Linke die „Company Susanne Linke" am Hebbel-Theater Berlin, 1994 eine Weitere mit Tanzpartner Urs Dietrich; 2000/01 Mitbegründerin und künstlerische Leiterin des Choreographischen Zentrums Essen.


l: Alain Platel, r: Fabrizio Cassol, (photos © Elfi Oberhuber)


Gibt es einen Sinn des Lebens?

intimacy-art: Was ist der Sinn des Lebens?
SUSANNE LINKE: Es gibt keinen. Der Mensch braucht diese Annahme nur, um sich vorzumachen, einen Sinn finden zu müssen. Ausgehend von der Natur, die sich von den einfachsten molekularen Strukturen verfeinerte, wobei der Geist hinzu kam, der sich nun fragt:"Es muss doch einen Sinn geben?". Objektiv gesehen gibt es aber keinen.
FABRIZIO CASSOL: Der Sinn des Lebens-an-sich ist die eine Sache. Eigentlich geht es aber um deinen persönlichen Sinn. Das wäre für mich - wie bei jedem Musiker - auf der Bühne zu spielen; sowie eine Arbeit zu machen, wo die einzelnen Menschen wichtig sind. In den meisten Jobs ist das ja nicht so. Menschen emotional nahe zu kommen, Ideen, Erfahrungen auszutauschen, ist die sinnstiftende Chance des Künstlers.
intimacy-art: Reflektieren Sie manchmal bewußt darüber?
CASSOL: Ja, und dann fühle ich mich wie gesegnet. Der Segen, Menschen begegnen zu können, bedeutet für mich auch Verantwortung zu tragen, was ich sehr ernst nehme.
ALAIN PLATEL: Dazu stehe ich so ziemlich im Gegensatz.
CASSOL: Das ist bei uns wie beim Berg ...
intimacy-art: Zum Berg kommen wir noch.
PLATEL: Beim Gedanken an den Sinn des Lebens, werde ich zuerst einmal negativ, depressiv, aggressiv. Er macht mich wütend und rebellisch. Ich wil die Tatsache nicht akzeptieren, nur da zu sein, um zu sterben.
LINKE: Da könnte der Buddhismus helfen, als Versuch zu verstehen, was uns umgibt, was vor und nach uns ist. Das hilft nicht nur, Trauer an gestorbenen Freunden zu überwinden, sondern mit dem Tod umgehen zu lernen: ihn als Energie-Fortsetzung und Wandlung zu begreifen. Als Transformation, Transmission.
PLATEL: Bis jetzt vermochte ich es nicht, mir einzureden, dass nach dem Leben etwas Positives passiert. Ich stecke auf dieser Erde fest. - Gerade deshalb halte auch ich es für das Beste, sich gesegnet zu fühlen. Und da ist für mich nur entscheidend: mir unentwegte Neugierde, Überraschbarkeit, Offenheit zu erhalten. Sehe ich ein Bild, stelle ich mir den Maler dazu vor. Sehe ich eine Erfindung, denke ich an den Erfinder. Über alles freue ich mich sehr. Aber nur, weil ich es nähre. Ich versuche auch, mich über Entscheidungen, die ich in meinem Leben getroffen habe, glücklich zu fühlen. Dass sie überhaupt meinen Weg kreuzten, was ja von meinem Psychologie- und Behindertenpädagogik-Studium her unvorstellbar gewesen wäre. Ich würde weder von meinem Wesen, noch von meinem ursprünglichen Beruf her, reisen. Über das Touren entdeckte ich die Welt, eine wichtige Nahrung für meine Neugierde.
CASSOL: Es macht auch schon Sinn, die Mysterien des Lebens zu verstehen. Wobei mein Bewußtsein für die Spriritualität mit Kult und Mystik maßgebend ist. Ich wüßte nicht, wie eine Tasse Tee zu trinken, ohne damit verbunden zu sein. Ich wüßte nicht, wie ohne sie Saxophon zu spielen, wie eine Note zu komponieren.
LINKE: Das meinte ich mit dem Wort "Trans", das auch im Tanz so wichtig ist.
CASSOL: Ja. - Aber im Zusammenhang mit "Buddhismus" als Religion. - Ich halte nur die Rituale von Religionen für in Ordnung. Gerne bete ich mit, ob zum Geburtstag Buddhas in Korea, in den Tempeln mit den Hindus, mit den Katholiken in der Kirche, oder im Dschungel mit den Leuten im Busch. Wenn Menschen aber sagen, sie folgten einer Religion, frage ich mich oft, ob in ihnen wirklich Gott haust?
intimacy-art: Der Glaube dient dann zur sozialen Zugehörigkeit.
CASSOL: Aber egal, was man glaubt, es ist nie sicher, ob es richtig ist. Und doch besteht das ungeschriebene Gesetz, dass der Mensch im Grunde nie im Leben die Religion seiner Geburt wechseln kann, selbst wenn er sie wechselt. Deshalb ist es gut, mit sich selbst diesbezüglich vorsichtig umzugehen. Ich bin wahrscheinlich aber der religiöseste Mensch ...
PLATEL: Ich wünschte, ich wäre mental ein wenig behindert, um richtig glauben zu können.
CASSOL (lacht)
PLATEL: Dann könnte ich mich der Romantik nähern, die all die klassisch-religiösen Formen mit sich bringen. Ihre Bilder sind oft sehr hübsch, sodass ich mich angezogen fühle. Es könnte daher sehr einfach und angenehm sein, so zu glauben. Ich erinnere mich zum Beispiel an meine Großmutter, die an den Himmel glaubte, als Ort nach dem Tod, wo sich alle Leute treffen. Diese Bilder sind wie Märchen, weshalb sie so attraktiv sind. Um mich dem hinzugeben, bin ich wahrscheinlich aber mit zu viel Intelligenz gesegnet. Ich würde mich auch nicht frei genug dabei fühlen.


Zwischen Trauer und Genuß am Leben

intimacy-art: Alain Platel sagte in einem Interview: "Ich liebe, wie ich lebe, und falls ich jetzt sterbe, kann ich zufrieden sein. Ich habe getan, was ich tun wollte, dennoch finde ich, dass das Leben an-sich etwas sehr Trauriges ist. Vielleicht mag ich es deshalb, meine Stücke immer mit dem Tod enden zu lassen, weil er das Ziel des Lebens ist." - Indem Sie nun vorher sagten, dass Sie das nicht akzeptieren, scheinen Sie sich doch gegen die Trauer zu wehren. -Warum ist aber das Leben überhaupt so wahnsinnig traurig?
PLATEL: Weil es wie ein Riesen-Abendessen ist, zu dem du eingeladen bist, wo du all die fantastischen Gerichte siehst, aber nichts davon essen kannst. Oder du weißt, falls du davon ißt, wirst du krank. - Tatsächlich pendle ich aber zwischen einem Doppelgefühl in mir: zwischen der Trauer und dem Genuß in jedem Moment.
intimacy-art: Meinen Sie, die Erwartungen gegenüber begehrten Dingen sind größer, als man sie letztendlich erfährt?
PLATEL: Nein, temporär kann man volle Erfüllung erfahren. Aber als einzige Perspektive für die Zukunft weißt du: Älter zu werden, ist unangenehm. All deine Funktionen, physisch und psychisch, zu verlieren. Ich habe noch niemanden getroffen, der darüber glücklich war. Und es ist fast noch trauriger, sich als Außenstehender oder Sohn damit konfrontieren zu müssen. Mein Vater sagt: "Es gibt absolut nichts Nettes am Älterwerden." Dennoch streben wir alle darauf zu.
intimacy-art: Susanne Linke - Sie zelebrieren in ihrem autobiografischen Tanzstück "Schritte verfolgen II - Rekonstruktion und Weitergabe 2007" jeden Lebenaltersabschnitt als Genuß, Sie müßten dem daher widersprechen können.
LINKE: Ja, dazu stehe ich, obwohl es am Ende zur Begegnung mit dem Tod, dem Sensenmann, kommt, aber als Symbol für die Transformation. Richtig ist, dass das Leben nicht fröhlicher und lebendiger wird, sondern langsamer. Der Körper selbst verwandelt sich immer langsamer. Fast bis zum körperlichen Stillstand. Die Lust am Leben hängt jedoch mit der Energie zusammen. Und da kommt es zum energetischen Wandel. Die körperliche Energie läßt nach, wogegen die geistige Energie zunimmt. Und der Geist kann den Körper betrixen, weil er ihn ja inzwischen kennt: er kann ihn überlisten, wenn jetzt plötzlich das Kreuz schmerzt oder die Knie versagen. Die Bewegung entfernt sich somit von der jugendlichen Oberflächlichkeit und wird bestenfalls transzendental: als Einheit von Körper, Seele und Geist. Was im Tanz darzustellen ja viel schwieriger ist als die unterhaltende Akrobatik. Letztendlich ist es also der Geist, der am interessantesten ist - für mich war er das eigentlich schon immer.



Der Schrecken des Alterns in der westlichen Welt


PLATEL: Mit Glück, klappt das mit dem Geist, ja. Ich kenne aber Leute, die auch diese Funktionen verlieren. Sie werden langsamer, sie sehen nicht gut, sie hören schlecht, sie können nicht folgen, wenn Leute schnell sprechen. All das sagt dir klar und deutlich: "Entschuldigung, aber du nützt niemandem und nichts mehr." Kürzlich zeigte mir das selbst ein Typ aus Portugal, indem er mir ein e-mail mit Interviewfragen schickte: "Glauben Sie nicht nach zwanzig Jahren als Choreograf, dass es an der Zeit wäre, der jüngeren Generation Platz zu überlassen?" Ich fragte ihn: "Was bieten Sie mir stattdessen für Vorschläge? Fragen Sie mich, damit ich aufhöre, weil ich zu lange im Umlauf bin? Oder ist Ihr Vorschlag, dass das, was ich mache, keinen Wert mehr hat?" - Er war sehr geschockt über meine Antworten.
intimacy-art: Dabei wollte er wahrscheinlich nur ein kritisches Interview provozieren, weil das höchste Ziel im Journalismus die Kritik ist. - Da muss ein Antwort-Gebender auswägen können, ob es sich bei einer Frage gerade um Wahrheitsfindung oder Spiel handelt. - Da Sie mit ihrer Kunst so originell und zeitgemäß sind, würde ich das nicht allzu ernst nehmen.
PLATEL: Oh, doch. Ich nehme es ernst. Weil er nicht die einzige Person ist, die so fragt. Damit wirst du durchgehend geplagt. Tatsächlich bist du nur interessant, wenn du dein erstes "gutes" Stück machst. Danach ist es der reinste Kampf. Ich gebe jedem den Tipp, der in diesem Bereich arbeitet: "Gewinne keine Preise!"
intimacy-art (lacht)
PLATEL: Zu meiner Schwester, die Schauspielerin ist, sagte ich daher auch, nachdem sie einen Preis gewonnen hatte: Honey, jetzt wird´s hart ... Das ist also die Tendenz. Und ich nehme es ernst, weil ich diesen Typ auch mit dieser Art des Denkens konfrontieren wollte. Zum Einen, weil mich diese Gedanken bis zu einem bestimmten Grad tatsächlich selbst beschäftigen, zum Anderen, weil das zu hören grausam ist, und ich es als Effekt zurück werfen wollte. Um ihn zu zwingen, über seinen Vorgehensweise nachzudenken. Weil es im Grunde berührt, wie wir in unserer Gesellschaft alte Leute behandeln. Wie wir unsere Eltern, wie wir alte Leute über die Straße gehen sehen. Es wäre wichtig, diese Sicht zu ändern. Das glaube ich wirklich.
CASSOL: Die Musik ist eine der Ausnahmen, wo das nicht so ist. In der Musik ...
PLATEL: ... kannst du alt werden.
CASSOL: Ja. Du kannst mit achtzig noch immer spielen, wenn du willst. Bis zu deinem letzten Tag. Ich dachte gerade gestern beim Spazieren daran, als ich mit meinem Sohn über seine momentanen Band-Vorlieben sprach: er hört Bands wie die Red Hot Chili Peppers, die ich schon mit 18 hörte. Diese Musiker sind nicht jünger als ich, aber mein dreizehnjähriger Sohn verliert ihnen gegenüber die Bedeutung von Zeit. - Der Rest des Lebens ist aber nicht so. Diesbezüglich ist vor allem die westliche Welt grausam. In anderen Weltteilen sind Würde des Alters, Gefühl für ältere Leute, oder auch Mitleid, ausgeprägter.


Alain Platel, Fabrizio Cassol, (photos © Elfi Oberhuber)


Lesen Sie in Teil 2 schon bald auf dieser Site: Wie Alain Platel, Fabrizio Cassol und Susanne Linke über Selbstmord denken, und inwiefern Behinderte diesbezüglich un/glücklicher sind.


(Interview-Auszug vom 4.+6.6.2007, volle Länge in Print (Deutsch+Englisch) / Audio (Deutsch+Englisch gemischt) über intimacy-art@gmx.at)