Monday, September 17, 2007

Alain Platel zu Susanne Linke & Fabrizio Cassol2: "Glück kennt weder Gesunder noch Behinderter"


Alain Platel (photo © Elfi Oberhuber)


Im zweiten Teil des Gesprächs von ELFI OBERHUBER mit den Tanz- und Musikkünstlern ALAIN PLATEL, FABRIZIO CASSOL und SUSANNE LINKE, geht es um ihre verblüffende Einstellung zum Selbstmord. Ob er - wie das Glücksgefühl - dem Gesunden näher liegt als dem Behinderten, ist zunächst ein Streitfall, löst sich aber in einer Erkenntnis auf... Für Einführung und Teil 1 scroll down!

Kurzprofil ALAIN PLATEL (geb. 9.4.1956 in Gent in Flandern/Belgien, Sternbild Widder) - Im Grenzübertritt von Tanz, Theater, Musik und bildender Kunst gilt der Regisseur, Choreograf und Tänzer neben Wim Vandekeybus und Anne Teresa De Keersmaeker als wichtigster Tanz-Company-Gründer Belgiens. In Wolf (UA Ruhrtriennale 2003) machte er endgültig sein Image als "genialer Motivierer, Angstnehmer und Seelenbefreier" populär, indem bei ihm enthemmte und doch durch Ironie geschützte Darsteller in extreme Gefühle ausbrechen. In Verbindung von "Sozialreportage mit der Albernheit eines Kindergeburtstags" kombiniert er viele Geschichten wie ein Zirkusjongleur, aber stets auf höchst virtuosem Niveau. Die Feinfühligkeit im menschlichen Umgang holte er sich während seiner ersten Ausbildung zum Heilpädagogen, wonach er fünf Jahre schwer behinderte Kinder betreute. Parallel studierte er Ballett und Modern Dance. 1984 gründete Platel mit den Tänzer-Choreografen Koen Augustijnen, Christine de Smedt, (und später) Sidi Larbi Cherkaoui (statt Hans Van den Broeck) das Tanzkollektiv Les Ballets C. de la B., das im Sinne von "die Struktur dient der Kreation und nicht andersrum" den Mitgliedern sämtliche Freiheiten lässt, in jeder erdenklichen Funktion und anderswo zu arbeiten. Internationaler Durchbruch mit Lets op Bach, weitere Welterfolge: V.S.P.R.S. (2006 nach Claudio Monteverdi & im Juni 2007 zu Gast in Wien), Allemaal Indiaan (1999), La Tristeza Complice (1995), Bonjour Madame (1993) und Emma (1988). Etliche Auszeichnungen, darunter der Europäische Theaterpreis 2006 für sein Lebenswerk. Vom 22.-25.7.2008, 20h, war geplant, dass Alain Platel in Kooperation mit ImPulsTanz für das Theater an der Wien eine neue Produktion kreiert, stattdessen kommt aber Kanadierin Marie Chouinard am 22.+24.7.2008, 20h30 mit ihrer weltberühmten Kompagnie mit Orpheus and Eurydice. Hundertprozentig auch gut!

- Kritiken zu den zwei Gast-Aufführungen von Alain Platel in Wien sind auf intimacy: art (www.intimacy-art.com) in REALNEWS / CRITIC / Archive: Juni 2007, Titel: ALAIN PLATEL UND FABRIZIO CASSOL MIT ETHNO-BEHINDERTENWERK "VSPRS", scroll down!, sowie Juli 2007, Titel: ALAIN PLATEL MIT SEINEM RÜHRENDEN LACH-SCHOCKER "NINE FINGER", scroll down!


Selbstmord ist gegenwärtig wie die Einstellung auf den Tod

intimacy-art: Verstehen Sie Menschen, die sich das Leben nehmen?
LINKE: Sehr gut. Ich selbst wollte mir noch nie das Leben nehmen, doch denke ich täglich über den Tod nach.
PLATEL: Selbstmord paßt absolut in meine traurige Denkensart.
intimacy-art (lacht)
PLATEL: Ich meine, ich würde es nie tun. Aber ich stelle mich oft aufs Sterben ein. In stillen Momenten denke ich: "Was wäre, wenn jetzt ..."
intimacy-art: Wann hat das begonnen?
PLATEL: 2003.
intimacy-art: Warum?
PLATEL: Weil ich da eine wundersame Erfahrung mit einem Typen hatte, mit dem ich das Gymnasium besucht und den ich seitdem nicht mehr getroffen hatte. 2003 kam die Nachricht, dass er sterben würde. Vorher wolle er mich noch sehen. Ich probte gerade für Wolf und ärgerte mich, "fuck, warum ausgerechnet jetzt? - Ruf mich nicht an, wenn du stirbst!"
intimacy-art (lacht)
PLATEL: Aber natürlich geht man hin. Und die zehn Minuten in dem Zimmer waren dann ein heiliger Moment. Ich fühlte und sah, dass er wirklich starb. Er hatte Fieber vom Krebs, zitterte und sagte nur: "Ich halte es für nötig, dir mitzuteilen, dass du für mich zwischen 12 und 18 sehr wichtig warst. Ich mochte deine Anwesenheit sehr." - Dabei hatte ich ihn nicht einmal wahrgenommen, geschweige denn, dass ich starke Erinnerungen an ihn hatte. Am nächsten Tag war er tot. - Seitdem stelle ich mich auf den Tod ein.
CASSOL: Ich dagegen frage mich: Was passiert mit der Seele? Wo ist überhaupt meine Seele? - Und für viel härter als Selbstmord halte ich die Vorstellung, dass Gott dir Dinge gibt, er sie aber von einer Sekunde auf die andere wieder zurück nehmen kann. Allein der Gedanke, mein Sohn müßte jetzt sterben, löst entsetzlichen Schrecken in mir aus. Ich wüßte nicht, ob und wie ich das verkraften könnte. Oder würde ich sterben - hätte mein Sohn genug Kraft, um weiter zu leben? Daran denke ich oft. Auch daran, die Inspiration zu verlieren ...
PLATEL: Das ist das Schlimmste, ja.
CASSOL: ... wie ich dann wohl mein Leben neu strukturieren könnte. Daran denke ich jeden Tag.
intimacy-art: Ja, das klingt sehr traurig. (lacht)
CASSOL: Nein.
PLATEL: Das geht über die Traurigkeit hinaus. Zu wagen, in diese Richtung ohne Angst zu denken, ist einfach der Versuch einer Vorstellung deines eigenen Todes, und wie er sein könnte. Darüber nachzudenken, was eine Person ist, die sich umbringt, wo für sie die Herausforderung liegt, wo die Feigheit? Und physisch an einen Körper zu denken, der stirbt, ist sogar fesselnd.


Vom Wissensexperiment zum leichtfertigen Wegwurf des Lebens

CASSOL: Das erinnert mich an eine Clique vor zehn Jahren. Diese sehr jungen Leute dachten naiv, aber intensiv über das Wesen von Leben und Kunst nach, Geld und Geschäft interessierte sie nicht. Einer von ihnen war ein echt starker Typ, fit, in guter körperlicher Kondition, und mit 18 entschied er zu sterben. Er schmückte den Garten mit Rosen, legte sich nieder und von einer Nacht zur anderen, verließ seine Seele den Körper.
intimacy-art: Nahm er Drogen?
CASSOL: Nein, nichts. Nie. Nicht einmal, wenn seine Freunde welche nahmen. Er sagte: ich war auf dieser Welt, um zwei, drei Dinge zu erledigen, das habe ich getan, jetzt gibt es keinen Grund mehr für meinen Körper, weiter zu machen. Das war für alle ein Schock. Dass so ein junger Mensch einfach sein Ende beschließt und ohne klinische Begründung stirbt.
LINKE: Bei so jungen Leuten halte ich Selbstmord für schade. Prinzipiell sollte der Mensch dafür eine geistige Ebene erreicht haben. Wie und warum - das ist dabei die große Frage.
CASSOL: Es war aber kein Selbstmord.
intimacy-art: Aber er wollte doch sterben.
CASSOL: Er bereitete alles vor, auch für seine Eltern ...
intimacy-art: Würden Sie sagen, dieser Junge war reif genug, um seinen Tod zu beschließen?
CASSOL: Nun, die Eltern waren traurig. Die Freunde waren es in dieser Cliquen-Gesinnung nicht. Sie richteten alles für das Begräbnis her, um seiner Seele zu helfen, weiter zu leben. Die Kirche war gesteckt voll...
intimacy-art: Das ist der reinste Werbefeldzug für den Tod...
PLATEL (lacht)
CASSOL: Nun, in diesem Fall ging es auch um Wissen.
intimacy-art: Der Freitod scheint momentan eine Art von dekadenter Mode zu sein. Ich denke, so ein junger Mensch idealisiert die "so genannte" Transformation, er verschenkt sein Leben für ein leichtsinniges Experiment.
CASSOL: Für mich persönlich ist die Mystik der Seelen jedenfalls das größte Phänomen der Welt. Für wirklich gefährlich halte ich nur Leute, die im Internet Selbsmorde organisieren. Das ist wirklich schrecklich und unreflektiert.

l: Alain Platel, r: Fabrizio Cassol, (photo © Elfi Oberhuber)


Gesunde und Behinderte - gleiche Ängste, andere Zufriedenheit

intimacy-art: Sie sagten, manchmal würden Sie gerne geistig behindert, um fröhlicher zu sein. Glauben Sie, dass das für einen Behinderten leichter ist, weil er mit seinem Schwächepunkt genau weiß, wogegen er ankämpfen muss?
PLATEL: Nein, ich habe nie einen Behinderten getroffen, der mit seiner Behinderung glücklich war. Es gibt nur Einzelne, die etwas damit verbinden können und dann zu so etwas wie innerer Balance finden. Unser Geiger Tcha (Limberger) zum Beispiel, sagte auf meine Frage, ob er sich vorstellen könne zu sehen: "Nein, das möchte ich erst gar nicht versuchen." - Er hat also einen Weg gefunden, der ihn unter seinen Umständen glücklich macht, ist aber an sich nicht glücklich darüber, blind zu sein.
LINKE: Die emotionale Empfindung hat mit Bewußtsein und Selbstbild zu tun. Ich konnte bis sechs ja nicht sprechen. Und bis dahin war ich mit meiner Stummheit eigentlich ein sehr glückliches Kind, da ich mich selbst nicht als behindert gesehen hatte. Meine Familie war in christlich-lutherischer Erziehung sehr tolerant und sah, dass ich vieles durch mein Bewegungsgeschick wettmachte. Dann kam ich doch ins Sprechheim, wo ich in eineinhalb Jahren bei intensiver logopädischer Lehre sprechen lernen mußte. Das war für mich sehr mühsam, weil ich aus dieser Welt eigentlich nicht heraus wollte. Wie bei Helen Keller, die auch noch blind und taub war und sich dagegen wehrte, etwas lernen zu müssen. Man baut sich eine Welt auf und will gar nichts Neues kennen lernen. Erst eine sehr starke Autorität schafft es, einen dazu zu zwingen. Und wenn man diese Person nicht akzeptiert, ist es nur ein Kampf. Man ist dann in einem Tunnel. - Deshalb habe ich mir später in der Kunst in Form von schwierigen Stoffen bewußt solche Tunnel gesucht, um Klischees auszuweichen. Ich wollte nicht nur - wie sonst als Frau im Tanz - entweder eine Hexe, Hure oder ein Engel sein. Dieses Bewußtsein kommt also wahrscheinlich aus meiner frühkindlichen Stumm-Zeit.
PLATEL: In der Kinderzeit liegt der Unterschied. Behinderte Kinder haben auch noch Hoffnung. Als Erwachsener weißt du, was irreparabel ist. Das erfährt ein Kind nicht so. Wenn es dann älter wird, besonders in der Teenager-Zeit, beginnen die Probleme. Da gibt es wirklich niemanden, der hier in Balance ist. Eine Begegnung schockierte mich, als ich mit 18 im Behinderten-Institut arbeitete. Ein 16-jähriger Spastiker - im Rollstuhl und schwerst sprechbehindert - fragte mich, ob ich mir vorstellen könne, dass sich ein Mädchen in ihn verliebe und ihn heiraten würde. Ich sagte, "wenn ich du wäre ..." Und er sagte: "Bist du verrückt? Ich kann mir ja auch nicht vorstellen, normal zu sein. Wie kannst du es wagen, dich mit mir zu vergleichen?" - Das hat meine Einstellung verändert. Wenn ich sage, ich würde gerne ein bißchen geistig behindert sein, ist das als Metapher gemeint. Natürlich würde ich das nie sein wollen. Es muss wirklich hart sein, mit einer Behinderung durchs Leben zu gehen.
LINKE: Ich glaube dennoch, dass es wahrscheinlich leichter für einen Behinderten ist, eine Lebensqualität zu finden, weil er durch ein gewisses Leid gegangen ist. Geht alles im Leben nur glatt, weiß derjenige meist nicht, was er daran hat. Der "Geschwächte" hat ein konkretes Ziel und Thema, dessen er sich bewußt ist, was ihm hilft zu empfinden, dass das Geschaffte bzw. Erschaffte ein Geschenk ist.
intimacy-art: Besucht Alain Platel deshalb so gerne psychiatrische Museen - um dankbar zu sein?
PLATEL: Nicht direkt. Es fasziniert mich, dass ich auf der anderen Seite der "Gesunden" nie jemanden getroffen habe, der sich vollkommen perfekt fühlte. Jeder hat auf eine gewisse Weise eine Behinderung, und zwar mehrere. Und so versuche ich, an diese extremen Beispiele heran zu gehen, um die Verbindung zu den Erfahrungen von jedermann herzustellen. Ich hoffe, dass die Leute bei V.S.P.R.S., wofür ich in solchen Stätten recherchierte, nicht an kranke Leute denken, sondern: "Oh, das bin ja ich! - Nur in einer extremen, sehr tiefen Form." Nur deshalb sind die Leute ja berührt, nicht weil sie "Behinderte" (Anm. Red.: Tänzer, die Behinderungen nachahmen) auf der Bühne sehen.




Lesen Sie in Teil 3 bald auf dieser Site: Wie Alain Platel, Fabrizio Cassol und Susanne Linke aus "Häßlichem" schönste Kunst mit Aura machen, und wie sich Religion und echte Persönlichkeiten in Musik und Tanz ausdrücken.

Susanne Linke (photo © Elfi Oberhuber)


(Interview-Auszug vom 4.+6.6.2007, volle Länge in Print (Deutsch+Englisch) / Audio (Deutsch+Englisch gemischt) über intimacy-art@gmx.at)