Thursday, October 26, 2006

"Ich weiß, dass ich Musik nicht verstehe, aber ich brauche dafür Zeit", David Harrington (Kronos Quartet), 1

photo: David Harrington (© Elfi Oberhuber)

Kronos Quartet-Bandleader DAVID HARRINGTON findet im Gespräch mit ELFI OBERHUBER in 25 Minuten zu einer Tiefe, die unglaublich ist. Bevor es dazu kommt, aber zuerst der erste Teil über den Zusammenhang von Zeit, Musik und Musikerdasein, sowie das Bedürfnis dieses Topmusikers, einen Komponisten als Mensch ganz genau kennen zu müssen.

Kurzprofil KRONOS QUARTET: Dieses amerikanische Streichquartett kann in drei Jahrzehnten seiner Existenz getrost “das Berühmteste der Welt" genannt werden, ständig auf der Suche nach Neuem, meist einen Trend aufspürend, dem dann andere folgen. Seine letzte CD You´ve Stolen My Heart - Songs from R.D. Burman´s Bollywood widmet sich der indischen Filmmusik. Kaum ein anderes Quartett hat mehr Preise geholt; beinahe jährlich eine Grammy-Nominierung und für die Alban-Berg-CD Lyric Suite 2003 ein Grammy. Wer sich genauer mit dem immensen Werkspektrum des von Violonist DAVID HARRINGTON (Sternbild Jungfrau) gegründeten Kronos Quartets beschäftigt, merkt aber bald, dass seine eigentliche Qualität im Aufspüren und Motivieren von zeitgenössischen Komponisten bei mittlerweile 450 neuen Stücken liegt, quer durch die Kulturen aller Welt. Oft geschrieben von Menschen, die ohne Aufforderung nie für ein Streichquartett schreiben würden. Die Folge sind einzigartige Innovationen in der Streichquartett-Gattung, mit Rock, Pop, Minimalismus, Atonalität, World, Jazz, schlicht mit allem (Un)denkbaren, oft schmerzhaft schön, manchmal ungemein rhythmisch unterhaltend. Kein Tabu kann diese Forscher bremsen! Übrigens: diese Gruppe lebt großteils von Spendengeldern - eine Formulierung, für die man sich in Amerika nicht zu schämen braucht...
Die Kronos-Mitglieder: DAVID HARRINGTON (Violine, Bandleader), John Sherba (Violine), Hank Dutt (Viola), und neu dabei seit August 2005: Jeffrey Zeigler (Cello)
Vom 15.-18.11. ist das Kronos Quartet live in Wien im Rahmen des New Crowned Hope-Festivals zu hören. Genaue Daten auf intimacy-art.com / aKtuell / REALNEWS / INTERVIEW (mit Peter Sellars)



Von der schönsten halben Musiksekunde

intimacy-art: Es ist jetzt 15h30. Und wir haben 25 Minuten Zeit. Mögen Sie Interviews in Eile?
DAVID HARRINGTON: Es ist für mich ein Abenteuer, selbst wenn es kurz ist.
intimacy-art: Kann sich denn knapp limitierte Zeit auf Ihre eigene Arbeitsweise in der Musik positiv auswirken?
HARRINGTON: Ich sammle ja Musik, tagein, tagaus. Und einige meiner stärksten Erfahrungen waren jene Formen, die sich um eine einzige Note drehten. Je nachdem, wie sie ein Musiker wichtig werden ließ. Das veränderte mein Leben so sehr, dass ich ab diesem Zeitpunkt völlig neu darüber dachte und damit umging.
intimacy-art: Wird für diese einzige Note dennoch viel Zeit benötigt?
HARRINGTON: Nein, die Eindruckvollste auf Violine dauerte eine halbe Sekunde.
intimacy-art: Ist der Vorteil der zeitlichen Knappheit, sich sehr konzentrieren zu müssen? Auch, bezogen auf Ihre oft kurzen Stücke, worin alles kompakt verpackt ist, sodass es stark wirkt.
HARRINGTON: Nun, auch die Kunstwelt ist ein geschäftiger Ort, wo sich jeder Künstler in den Wettbewerb um Zeit und Aufmerksamkeit der Leute schmeißen muß. Deshalb fordere ich unsere Komponisten immer auf: "Ein Stück soll so kurz sein, wie es nur sein kann, und so lange, wie es sein muß." Das funktioniert als Regel, denn der Mensch sucht immer nach dem direktesten Weg. Das Leben ist kurz. Es könnte schon gleich enden. Und die Musik hat dem zu gehorchen.

Vom Momenttyp zum Planertyp

intimacy-art: Würden Sie sagen, dass Sie sehr im Moment leben - das soll "der Unpünktliche" sein ­ oder nach Zeitplan?
HARRINGTON: Beides. Um auch nur einen Teil dessen machen zu können, was ich machen will, brauche ich viel Planung und Organisation. Gleichzeitig gehe ich sehr nach dem Instinkt. Wie wenn du durch ein Plattengeschäft gehst und dich fragst, was dich wohl zu dieser Aufnahme hinzieht?
intimacy-art: Ein guter Musiker muß ja an-sich schon ein Momenttyp sein, da er mit völliger Hingabe Stücke transportiert. Aber auch Ihr Sinn für die Mode(rne) unserer Zeit macht Sie dazu, indem Sie Musikstile ­ wie gerade jetzt Bollywood oder davor Lateinamerikas (CD: Nuevo) ­ produzieren.
HARRINGTON: Sicher, ich vertraue prinzipiell auf meine Ohren. Ich höre mir viel Musik an, höre auf viele Gespräche mit verschiedenen Komponisten. Und plötzlich werde ich magnetisiert, von einer dieser Musikformen, einem dieser Stücke, dieser Komponisten ­ und dieses Gespür ist es, das mich antreibt.
intimacy-art: Und dann sind Sie so interessiert, dass Sie diesen Mann, diese Frau mehr als Persönlichkeit als über deren Interpretationsvorgaben am Notenblatt verstehen wollen.
HARRINGTON: Absolut. Wir sind da wie Detektive. Denn nur so gewinnen wir genügend Information, um herauszufinden: "Was hat diese eine Note wohl für eine Wichtigkeit?" Dafür muß der Komponist manchmal viele Fragen beantworten. Seine Musik-Notationen sind eine zu unexakte Kommunikationsform. Eben wie Worte: Eine Person meint mit bestimmten Worten eine Sache, die andere versteht darunter etwas völlig anderes. Noch ungenauer wird es bei verschiedenen Sprachen und Übersetzungen. Wie wir also eine Interpretation erreichen, hängt von den Beweisen, den Wahrheiten ab, die wir selbst sammeln. Und ein Komponist kann uns ziemlich exakte Beweise liefern. Selbst wenn es noch immer nicht die einzigen sind.
intimacy-art: Beschwerte sich je ein Komponist, "nein, da habt Ihr mich falsch verstanden und nur Euren eigenen Stil aufgedrückt!"?

Musik - Etwas noch höheres als eine Frau

HARRINGTON: Ehm, es ist uns direkt nie gesagt worden, aber...
intimacy-art: So hätte ich es auch gedacht.
HARRINGTON: ... vielleicht wurde es dennoch gesagt, und ich erinnere mich nur nicht daran. Kronos ist ein Resultat aus einmaligen und langjährigen Beziehungen. Ich interessiere mich allerdings auch bei langer Komponisten-Zusammenarbeit für niemanden, der sein nächstes Stück "für" Kronos schreibt, das es dann spielen "muß". Denn das würde uns in etwas hineinboxen. Ich möchte sehr frei sein, in jede mögliche Richtung gehen können.
intimacy-art: Dann sind Sie eigentlich noch mehr der Jäger als der Sammler.
HARRINGTON: Ein treffender Vergleich. Ich halte Musik selbst für etwas sehr wildes, freies, unbezwungenes. Ich weiß, dass ich sie im Grunde nicht verstehe. Und keiner von uns wird sie je richtig verstehen. Ich weiß darüber sicher nicht mehr als Sie.
intimacy-art: Vielleicht wollen Sie sie nicht verstehen, um sie lieben zu können.
HARRINGTON: Sie ist für mich jedenfalls ein Mysterium.
intimacy-art: Dann muß die Musik wohl eine Frau sein!
HARRINGTON: Etwas noch Höheres. Denn wie funktioniert sie wirklich? Was ist Musik? Sie ist eine menschliche Erfindung: Jede Kultur scheint sie zu haben, fast jede Religion. Die Menschen haben sie entwickelt, um sich Freude zu bereiten, ein Gemeinschaftsgefühl zu haben. Sie vermittelt Sinn für Kontinuität, Vergangenheit und Zukunft. Sie ist ein Mittel, das Leben zu feiern, oder zumindest eine Tiefe zu markieren. Aber wie das tatsächlich funktioniert, welchen Prozeß die Menschen dabei durchlaufen, wenn sie Musik erfahren - das ist letztendlich eine ganz persönliche Sache. Für jeden Menschen. Was Sie bei Musik denken oder empfinden, ist ganz anders als das, was ich darüber denke und empfinde. Selbst wenn wir dieselbe Musik hören, wie jetzt.
intimacy-art: Dennoch schaffen Sie das Wunder, so viele Menschen für Ihre, auch sprerrige, Kronos-Musik zu begeistern; Und besonders bekannt und beliebt sind Sie wegen der vielen Minimalisten in Ihrem Repertoire.

Lesen Sie in Teil 2 des Interviews demnächst auf dieser Site: Weshalb David Harrington an der Existenz von Minimalismus-Musik zweifelt.
(Interview-Auszug vom 18.5.2006, volle Länge in Print (Deutsch + Englisch) / Audio (Englisch) über intimacy-art@gmx.at)

No comments: