Wednesday, September 06, 2006

"Einen G-Punkt zu dirigieren ist leicht", Kristjan Järvi




Dirigent KRISTJAN JÄRVI schwelgt im Interview mit ELFI OBERHUBER in sexueller Ekstase und denkt dabei doch nur an das "Tonkünstler Orchester Niederösterreich": Als Rockband wie von Frank Zappa!



Kurzprofil KRISTJAN JÄRVI: Am 13.6.1972 in Tallin/Estland (Sternbild: Zwillinge) geboren, emigrierte der Sohn des weltberühmten Dirigenten Neeme Järvi als Achtjähriger mit der Familie in die USA. Bruder Paavo Järvi lernte Schlagzeug und ist ebenfalls Stardirigent (ab 2006/07 leitet er das hr-Sinfonieorchester in Bremen). Schwester Maarika ist Flötistin, mit der Kristjan mehrere CDs aufgenommen hat. Alle drei teilen ihr Faible für estnisch-nordische Komponisten. Nach einem Assistenzdirigat bei Esa-Pekka Salonen in Los Angeles und einem Chefdirigat beim Norrland Opernhaus in Schweden, ist Kristjan Järvi seit 2004/5 bis 2009 Chefdirigent des “Tonkünstler Orchester Niederösterreich". 2006 gastierte er zudem mit seinem "Absolute Ensemble" in Wien, das er 1993 nach seinem Klavier- und Dirigentenstudium in New York gründete. Es zählt grammynominiert zu den führenden Kammer-Ensembles und hat neben Barock bis Rock über zeitgenössische Komponisten (Erkki-Sven Tüür, Charles Coleman, Daniel Schnyder und Peeter Vähi) vor allem Frank Zappa im Live-Programm.
photo: Kristjan Järvi © Tonkünstler Niederösterreich
Sex´n´Rock´n-Roll-er am Pult

intimacy-art:
Frank Zappas theatrale Musik-Tripps, mit denen Sie und das Absolute Ensemble erfolgreich durch die Welt touren, waren “echter" als Ihre. Mit ihm selbst als genialem Verlierer, einem übertalentierten, mißverstanden Außenseiter. - Haben es Künstler heute schwerer als in den Siebzigern?
KRISTJAN JÄRVI: Rebellische Leute wurden damals eher akzeptiert. Wir müssen uns heute in eine Richtig- oder Falsch-, in eine Bürgerlich- oder Alternativ-Gesellschaft einpassen. Es gibt nichts dazwischen. Dabei wäre ja das Großartige am Künstler, sich individuell und nicht konform ausdrücken zu können. Darin sind in der Musik aber generell nur Pop und Jazz frei. Um dem entgegen zu wirken, gründete ich mein eigenes Kammerorchester “Absolute Ensemble", um mich wirklich selbst ausdrücken zu können, was ich mit dem Symphonieorchester nicht kann. Noch nicht. Mein Traum ist es aber, eines Tages mit ihm wie mit einer Band zu spielen und dann alles Mögliche damit anstellen zu können...
intimacy-art: Mit einem 100-Mann-Orchester?
JÄRVI: Bevorzugt 100 Frauen.
intimacy-art: Das erinnert an Zappas Bobby Brown, der singt: “Oh God, oh God, I´m so fantastic....", dabei ist er aber ein ganz ein mieser Liebhaber. Meinte Zappa, was seine selbstironischen Protagonisten sagen, oder sind das nur provokative Kunstfiguren, die eine ungewöhnliche Musik ermöglichen?
JÄRVI:
Das sind keine Kunstfiguren, nein, denn Zappa war ein Satiriker, der sich konsequent über die Gesellschaft lustig machte. Im Speziellen mit Bobby Brown, weil doch jeder zuerst an sich denkt und sich als sehr wichtig einschätzt. Das zeigt die Lächerlichkeit unserer Gesellschaft.
intimacy-art: Neben Rassismus und sozialer Unterdrückung, ging es ihm um Sex und Liebe. In “Baby Snakes" haben Baby-Schlangen, also junge Mädchen, begehrenswerte winzige Löcher, die normalerweise leer und rosa sind.
JÄRVI
(lacht)
intimacy-art: In “Dirty Love" will Zappa kein Gefühl, keine Zurückhaltung, keine Ergebenheit von der Frau, sondern ungezogenen Sex wie von einem Pudel.
JÄRVI (lacht)
intimacy-art: Dagegen kommt eine “Teenage-Prostitute", ein ängstliches Mädchen, nicht von seinem Zuhälter los, der es wie einen Hund behandelt. Identifizieren Sie sich da mit Zappa?
JÄRVI: Er sagt da sicher nichts Neues. Es ist alles sehr wahr.
intimacy-art: Ah, ja?
JÄRVI: Sicher. Wären diese Songs nicht wahr, würden sie nicht auf so große Resonanz stoßen und wären nicht so populär.
intimacy-art: Indirekt verweist Zappa damit auf den Reiz "intellektueller Mann - dumme Frau". Finden Sie das attraktiv?
JÄRVI:
Was animalisch begründet ist, da die Männer instinktiv die Unterwerfung suchen. Außerdem will man während des Sexaktes ja nicht unbedingt diskutieren ...
intimacy-art: Dieses Thema war für Zappas Musik jedenfalls ideal, da er Musikstile für jede Lust-Dimension erfinden konnte. Wie?
JÄRVI: Er kombiniert total unerwartete Elemente, sodass (s)eine Rockband sogar “dumm" klingt. Manchmal wechselt er von purer Technik zu totaler Auflösung. Er verstellt die Stimme, benutzt Instrumente wie Cembalos. Das ist alles total theatral, alles Schauspiel. In “Cosmic Debris" wechselt der Blues zum Rock und dann zur plastischen Introduktion, die wie eine Erklärung ist. Eine Sache führt zur anderen... Zappa ist ein kluger Geschichtenerzähler, mit vielen verbalen und musikalischen Rätseln, und dann aber auch wieder ganz platt und eindeutig. In “Teenage Prostitute" folgt auf das “tantatatatata" ein plötzliches “tiiiiiiiiiii, tiiiiiiiiiiiii", wo also offensichtlich ist, dass da etwas Höhepunktartiges vor sich geht.

Vom G-Punkt zu Beethoven
intimacy-art: Wie kann aber ein Mann einen G-Punkt komponieren?
JÄRVI:
Das ist sehr leicht.
intimacy-art: Echt? Haben Sie einen?
JÄRVI:
Nun, nein, aber man kann es sich vorstellen.
intimacy-art: Wie ist die Musik in Ihrem/Zappas “G-Spot-Tornado"?
JÄRVI: Großartig. Ich liebe sie.
intimacy-art: Ist sie schnell?
JÄRVI: Wie eine echt schnell gespielte Volksmusik.
intimacy-art: Wie eine Ekstase?
JÄRVI: Ja, wie: (trippelt mit zwei Fingerspitzen auf den Tisch).
intimacy-art: Ah, eine“Stimulation"!
JÄRVI: Ja.
intimacy-art: Einer der Ersten, der Frank Zappa symphonisch aufführte, war der amerikanische Minimalist John Adams mit dem deutschen “Ensemble Modern" 1996. Und Adams wiederum führen Sie selbst gerne auf. Fühlen Sie sich seinem Musikstil nahe?
JÄRVI: Ja. Er schreibt wie ein Songwriter, jedoch für Orchester lange, teure, expressive Stücke von intellektuellem und emotionalem Niveau, die eine soziale Aufgabe erfüllend wichtige Themen und nicht nur intellektuelle Ästhetik ansprechen. Er ist ein klassischer Komponist mit Rockseele, der in der Ära des kreativen Rock´n´Roll um Jimi Hendrix 1960/70 aufwuchs, und ihn dann mit Neuer Musik kombinierte, was zu jener Zeit der Minimalismus mit Konzentration auf Groove war. All das ist in Zappas Musik enthalten. Aber Minimalismus ist auch pur absolut fantastisch. Auf hohem Niveau gemacht, ist er das Beste der Welt. All meine Lieblingsmusik ist Groove-orientiert. Ich liebe Beat und Rhythmus.
intimacy-art: Wiederholungen.
JÄRVI: Es ist wie Trance.
intimacy-art: Womit wir beim Trip wären.
JÄRVI: Ja, das ist wie ein echt guter DJ-Mix im Club. So ist auch Adams Musik.
intimacy-art: Wie Techno?
JÄRVI:
Techno könnte zumindest auf Adams Level stattfinden. Techno kommt ja von der Minimal-Musik.
intimacy-art: Nachdem ich Sie nun studiert habe, würde ich sagen, dass Sie in der zeitgenössischen, freien Künstlerzone zuhause sind. Wurden Sie wegen der finanziellen Sicherheit Orchester-Chefdirigent?
JÄRVI:
Nein. Wollte ich Geld machen, wäre ich überhaupt nicht im Musikgeschäft. Ich möchte, dass man sich nach meinem Tod an mich als jemand erinnert, der in die traditionelle Orchesterszene einen neuen Stil des Dirigierens einführte und Dinge vermischte, die zuvor als unvermischbar galten. Als revolutionäre Tat sozusagen, da das eine sehr, sehr alte Institution ist: ein Museums-Orchester von über hundert Musikern, das niemand braucht. Außer wenn da lebendige Leute wie in einer Riesen-Rockband spielen, dann wird es für die Gesellschaft wieder relevant! Die einzige Art, wie es künftig und auch früher einmal funktioniert(e). Wäre Beethoven am Leben, und man spielte seine Sachen verschlafen wie “babababaaaaa (singt müde die 5. Sinfonie)", würde er durch den Konzertsaal schreien: “Stopp! So wird das nicht stattfinden! Niemand hat meine Musik so zu spielen!" Denn er war wie “BABABABAAAAAAAA! (singt fanatisch laut die 5. Sinfonie und hämmert dabei mit den Händen auf den Tisch)". Er war ein echter Rockstar! So muß daher seine Musik aufgeführt werden! Nicht, wozu sie die Tradition gemacht hat: als langweilige Hintergrundmusik. Dahin versuche ich nun auch mit meinem Tonkünstler-Symphonieorchester zu kommen, selbst wenn wir erst in den Startlöchern zum Rock-Symphonieorchester stehen.


(Interview-Auszug vom 3.2.2006, volle Länge in Print (Deutsch+Englisch) / Audio (Englisch) über
intimacy-art@gmx.at)

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