Friday, November 23, 2007

Fabrizio Cassol zu Susanne Linke & Alain Platel3: "Hoffnung liegt im Mysterium, warum wir leben"


Fabrizio Cassol (photo © Elfi Oberhuber)


Wie aus Häßlichkeit Schönheit wird, und wie Spiritualität als Religionsersatz das Leben verbessert, wo natürlicher Sex nicht fehlen darf - darum geht es im dritten Teil des Gesprächs von ELFI OBERHUBER mit den Tanz- und Musikkünstlern ALAIN PLATEL, FABRIZIO CASSOL und SUSANNE LINKE. Für Einführung und Teile 1, 2 scroll down!

Kurzprofil FABRIZIO CASSOL ist am 8.6.1964 in Ougrée/Belgien geboren (Sternbild Zwillinge). Schon während des kammermusikalischen Studiums mit Improvisation und Komposition am Konservatorium in Liège, wandte sich der frühausgezeichnete Saxophonist dem Jazz zu, was er bei Steve Coleman, Evan Parker und Joe Lovano intensivierte. Nach einer Reise in den afrikanischen Busch zum Stamm Aka pygmies gründete er 1992 mit Bassist Stéphane Galland und Schlagzeuger Michel Hatzigeorgiou Aka Moon, bis heute Cassols Hauptband im Bereich Jazz, Rock, Weltmusik und Avantgarde (einschließlich Elektronik). Daneben werkt(e) Cassol in acht Bands, darunter seit 2004 auch bei DJ Grazzhoppa's DJ Big Band (Hörprobe), wo er als Solo-Saxofonist zu 12 Computer-DJ´s live spielt. Doch auch mit Aka Moon (www.akamoon.com) erkundet Cassol neue Wege: die afrikanische Inspiration erweiterte sich zur Indischen, Kubanischen, zum Tanz (etwa für Rosas als Residence-Musiker an der Brüsseler La Monnaie/De Munt), zum Theater (KVS: Royal Flemish Theatre) und zur Oper (Luc Bondys und Philippe Boesmans Oper Wintermärchen - Hörprobe). Für V.S.P.R.S. von Alain Platels Les Ballets C. de la B., bearbeitete Cassol Monteverdis Barockoper Vespers (Hörproben), live gespielt mit dem barocken Oltremontano & Aka Moon sowie Jazz-SolistInnen (u.a. Tcha Limberger - Flöte/Geige). Die CD ist für den Belgischen Klara Musikpreis 2007 als beste CD des Jahres nominiert, der Sieger wird am 1. Dezember 2007 verkündet. Zuletzt erschien von Aka Moon die 19. CD Amazir (Hörprobe). Cassol unterrichtet an Musikuniversitäten (Etterbeek Musikakademie), erfand 2001 mit dem Instrumentenbauer François Louis das zweistimmige Sopransaxofon Aluchrome, nachdem er 1998 mit dem Belgischen Goldenen Django zum besten französischsprachigen Künstler gekürt worden ist.


Von der häßlichen Deformierung zu filigraner Schönheit

intimacy-art: Wie läßt sich etwas Häßliches wie "Deformierung" - was vom Leben als "angekränkelt" weg und hin zum Tod zu führen scheint - in etwas Schönes verwandeln?
SUSANNE LINKE: Die Kunst des Tanzes liegt an sich in der Klarheit, nicht im Tanz selbst. Die Idee dahinter muß klar sein. Dadurch tritt erst die Schönheit zutage. Sie passiert als fragiler Moment, wenn es auf der Bühne zu transzendentaler Spiritualität kommt. Spiritualität und Klarheit des Gedankens hängen zusammen. Häßliche Stellungen und Haltungen sucht man dabei nicht bewußt. Sie entstehen durch das innere Gefühl für ein Thema. Sollte sie ein Außenstehender, abgeleitet von "der üblichen Pose", nicht als "schön" bezeichnen, so kann dieser sie doch als schön empfinden, wenn sie technisch perfekt ausgeführt wird.
intimacy-art: Sie gelten diesbezüglich als Phrasierungskünstlerin, die jede Geste zur Gänze ausführt. Das soll Ihre auratische Schönheit ausmachen.
LINKE: Wahrscheinlich, ja. Es ist eine Technik des Körpers. Und ich praktiziere sie mehr denn je.
ALAIN PLATEL: Vielleicht stimmt das mit der Purifikation, der Reduktion auf Klarheit, ja, ... (überlegt) ... eigentlich weiß ich es aber nicht.
FABRIZIO CASSOL: Ich denke, Alain schafft den Akt der Purifikation, indem er mit größerer Aufmerksamkeit gegenüber den Leuten arbeitet als sonst jemand, gegenüber dessen, "wer sie sind, was sie fühlen".
intimacy-art: In der Aka-Moon-V.S.P.R.S.-CD habe ich aber auch bei Ihnen wunderschöne, pure Musik-Momente gefunden.
CASSOL: Hmm ...
PLATEL: Glücklicherweise ist sich Fabrizio dessen nicht bewußt. - Sagen Sie es ihm nicht!
CASSOL: Eines weiß ich aber: in Musik und Tanz verläuft das mit der Schönheit unterschiedlich. Geht man davon aus, dass die Schönheit an Harmonie gebunden ist, dann entspricht die Harmonie der Balance von Spannungen. Fordert Alain eine Tänzerin auf, mit ihrem Körper etwas zu repräsentieren, das in ihr arbeitet, ist das aber ein völlig anderer Prozeß als in der Musik. Das zeigt sich am Ende, indem wir innerhalb des eingespielten Teams nicht einfach einen Musiker austauschen können. Bei Alain drücken sich die Tänzer stets durch sich selbst aus, oder er bringt sie dazu, alles von gegensätzlicher Seite aus zu betrachten - das finde ich wiederum spirituell.
PLATEL: Meine größte Schwierigkeit bei dieser Frage ist, dass ich eigentlich nur sehr wenige Dinge häßlich finde. Also so, dass ich "wäääähhhh" schreie. Mir graust, wenn jemand während einer Operation einen Körper aufschneidet. Andererseits ist es fesselnd zu abstrahieren, wie wohl das Material unter der Körperöffnung ausschauen mag. Wenn Leute von häßlichen und schönen Bewegungen sprechen, frage ich mich stets, was sie damit meinen. Trotz Wissens, dass manche Bewegungen als häßlich angenommen werden, weil sie das Gegenteil eines gefällten Klassifizierungsurteils von "schön" sind. Um jene fürs Publikum akzeptabler zu machen, mußt du es dazu bringen, anders darauf zu schauen. Wahrscheinlich durch Beifügung anderer Spannungen. Musik kann sehr zur Akzeptanz beitragen, besonders Fabrizios "Barockmusik". Einige Bewegungen der Tänzer würden mit anderer Musik vielleicht als häßlich empfunden werden. Selbst wenn es mancher sicher auch so noch für "extrem" hält.
intimacy-art: Sie haben auch den Ruf, geschmackvoll zu arrangieren, selbst wenn die Leute auf der Bühne emotionale Grenzen überschreiten.
PLATEL: Ich würde sie nie darum bitten, etwas sehr Irres oder Extremes zu machen. Meist werde ich davon inspiriert, was sie mir vorschlagen. Das akzentuiere ich dann mit Vorschlägen. Ich weiß aber, dass bisher in jeder Produktion in jedem von uns etwas geschehen ist, wo wir unsere Grenzen jeweils ein wenig mehr überschritten haben. Doch selbst wenn manches momentan schmerzvoll oder schwierig war, war es in Summe letzenendes nicht schlecht, weder psychisch noch physisch. Das erfahren wir bei jedem Auftritt als wachsender Prozeß...
CASSOL: Ich mag an Alain, dass er im Bereich der Harmonie, der Balance an Spannungen, am weitesten geht.
PLATEL: ... Ich achte aber sehr darauf, dass sich die Akteure nicht aus reinem Selbstzweck oder bis zur Selbstverletzung verausgaben. Das möchte ich keinesfalls, weder auf der Bühne sehen, noch Teil davon sein. Dass Leute ihre Grenzen überschreiten, macht mir dagegen keine Probleme. Musiker tun das auch, indem sie Dinge auf der Bühne machen, die sie zuvor nie machten. Und auch sie sind dabei nicht unglücklich.
CASSOL: Wenn normalerweise Tänzer springen, kommen sie danach wieder zurück auf die Erde. - Wenn Musiker springen, kommen sie danach nicht zurück. Du kannst als Musiker springen, springen, springen, immer weiter... Du stehst zwar mit deinem Körper da, innen drin kannst du aber immer weiter abtriften. Sehr weit. Wenn Musik auf Tanz trifft, ist das das erste große Problem. Nur bei Alain ist es anders: Seine Tänzer kommen nicht auf die Erde zurück. Er hat die Fähigkeit, alles in ständiger Spannung zu halten. Und das ist dann echt inspirierend für die Musiker, selbst wenn es ein nie fertiger, täglich neuer Knochenjob ist. Auch, weil er in der langsamen Bewegung arbeitet, in Details. Das erhöht die Spannung noch. Andere - wie oft im Ballett - springen, springen, wie verrückt, zum oberflächlichen Staunen der Zuschauer. Echtes Staunen wie bei Alain ist dagegen rar.

Susanne Linke (photo © Elfi Oberhuber)


Neues Wort für eine undogmatische Völkerreligion

intimacy-art: Sie bezeichnen Monteverdis Musik als dogmatisch besetzt: Indem die Religion am Ende der Sinn des Stücks ist. Sie dagegen bringen Spiritualität in den Weg und die Art des Erzählens...
PLATEL: Ich mag sehr, wie Sie das erklären: nicht als Ziel die Religion zu haben, sondern auf dem Weg...
CASSOL: Ich bevorzuge die Spiritualität der Menschheit gegenüber der Religion. Zu Monteverdis Zeiten wurden Menschen ohne Wahl ihres ureigenen Glaubens geboren, sie waren automatisch katholisch, selbst wenn sich schon in dieser Periode ein komplexerer Christenkult abzeichnete, angefangen vom Protestantismus. Das steckt auch schon im originalen Vespers. Ob Monteverdi selbst eine Wahl bezüglich seines Glaubens hatte, weiß ich nicht, doch war Mozart zumindest schon freier als Bach. Und sobald Menschen freie Wahl im Glauben haben, öffnen sich für sie weitere Türen. Umgekehrt wird ein Dogma heute als viel härter empfunden als in Monteverdis Zeiten. Selbst wenn man früher praktisch tot war, wenn man anders als die Gemeinschaft glaubte.
intimacy-art: Wie brachten Sie die erdige Spiritualität konkret in die Musik? Ist es der Jazz, die ethnische Art, wie Sie damit umgehen?
CASSOL: Das Ethnische bezog sich zunächst auf die Lebensrealität der Tänzer, wo einer aus Brasilien kommt, der andere aus Argentinien, einer von Neuseeland, von Korea, von Vietnam, aus Frankreich, usw.. Anfangs arbeiteten sie zur originalen Monteverdi-Version, sodass ich nach einer Weile wußte: es muß ein anderer Sound her, der wirklich zu den Tänzern paßt. Sonst wäre es für mich wie eine koloniale Konvertierung gewesen, diese Leute aus aller Welt in einen gleichen, westlichen Sound zu stecken. Daher die Notwendigkeit, diese Musik ethnisch zu transformieren, wobei ich auch jede einzelne Textphrase entdogmatisierend umschrieb.
intimacy-art: Können wir also sagen, dass diese Musik für eine übergreifende Religion steht, wo alle Religionen in Frieden zusammen finden?
CASSOL: Nein, ich hoffe, es kommt nicht als eine Religion daher. Wobei sich das Paradoxon ergab: Je mehr ich Musik und Text entdogmatisierte, desto mehr wollte ich von den Sängern verstehen können, worüber sie sprachen, selbst wenn es Latein ist. Dabei sollten sie zur anfänglichen Idee des Textes zurück finden...
intimacy-art: Gibt es also noch eine Religion in der Neufassung V.S.P.R.S., oder nicht?
CASSOL: Es ist wie in der Malerei. Wir hatten die erste, die zweite, die dritte Periode, und jetzt sind wir auf dem Weg zur vierten Periode. Die Musik Monteverdis wurde zu religiösen Diensten geschrieben, was ich in der ersten Periode ablehnte. Nun, in der vierten Periode, kommen wir mit jedem kleinen Detail von Alains Tanzqualität zurück zu den religiösen Diensten, nur nicht im katholischen, muslimischen oder hinduistischen Sinn: sondern auf eine neue Art. Und ich denke: In diesem Stadium sollten wir ein neues Wort für den "religiösen Dienst" erfinden, um all den negativen Konnotationen zu entgehen ...


Ekstase im Leben, Nichts nach dem Tod - oder doch noch was ...

intimacy-art: Spielen in dieser neuen "Spiritualreligion" Ekstase und Sexualität eine Rolle?
PLATEL: Wir haben bald entdeckt, dass das in diesem Kontext mitspielen muss, und zwar auf natürliche Weise. Viele Leute interpretieren manche Zeichen der Performance als sehr sexuell, sodass wir im Zusammenhang mit Gebet und Religion einen Clash erhalten. So empfinden es manche - allerdings eher von außen als von innen. Eine Szene wird von der Presse mit "kollektiver Masturbation" benannt, die wir "gemeinsames Zittern" nannten. Selbst wenn jeder wußte, dass die Haltung dabei der Selbstbefriedung entlehnt ist. Es steht aber für mehr als das.
intimacy-art: Für einen höheren, verbindenden Geist der Gemeinschaft?
PLATEL: Ja. Ansonsten gibt es Momente, die ausdrücklich sexuell sind. Doch würde man sie stoppen, wären sie schwindend kurz. Nur in den Augen des Betrachters werden sie riesengroß.
intimacy-art: Liegt in diesen Momenten aus genau diesem Grund der Sinn des Lebens? In den herausfordernden Erregungskicks und der gemeinsamen Entspannung danach?
PLATEL (nickt): Prinzipiell glaube ich, jeder Mensch sucht in seinem Leben Beweise für die Tatsache, dass er lebt. Die kannst du dir schaffen, indem du etwas kreierst, Frauen können als glücklich Bevorzugte Kinder gebären. Jeder sucht etwas, womit er seine Unterschrift hinterlassen kann, um zu sagen: Ich war da.
intimacy-art: Den Berg aus Unterwäsche von Bühnenbildner Peter De Blieck interpretiere ich als Berg dieser "Unterschriften", auf dem die letzten Tänzer im Stück die Leichen der anderen zusammentragen. Und alles endet hoffnungslos.
PLATEL: Ja, mit dem Massensterben entkräfteter Menschen. Doch in der Musik bleibt die Hoffnung. Daran glaube ich auch sehr. Selbst wenn auf der Bühne (lacht) nicht mehr viel übrig ist.
CASSOL: Für mich lebt der Berg sehr wohl. Schon weil auf der Bühne naturgemäß alles lebt. Alles lebt: als Symbol.
PLATEL: Nein, ich denke, der Berg ist das Ende und damit der Tod. Nichts gibt´s dahinter. Deshalb soll man ja bestenfalls im Leben spi/rituell leben.
CASSOL: Oh nein, auch dahinter lebt etwas, etwas sehr Geheimnisvolles. Dafür steht auch die Musik: für das Mysterium, warum wir überhaupt auf der Welt sind ...

...und darüber wird noch bis in alle Ewigkeit gestritten werden... Emen.


l: Alain Platel, r: Fabrizio Cassol, (photos © Elfi Oberhuber)

(Interview-Auszug vom 4.+6.6.2007, volle Länge in Print (Deutsch+Englisch) / Audio (Deutsch+Englisch gemischt) über intimacy-art@gmx.at)

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