Monday, July 23, 2007

Susanne Linke zu Alain Platel & Fabrizio Cassol: "Transgression hilft, den Tod zu ertragen", Teil 1


Susanne Linke (photo © Elfi Oberhuber)


Nachdem sich in letzter Zeit die Selbstmorde unter jungen, viel-beauftragten Künstlern häuften, scheint es ELFI OBERHUBER interessant, zwei Menschen, die als Choreografen und Tänzer ganz nah an Körper und Seele dran sind, zu fragen, wie sie über das - gegenwärtig kranke? - Leben und den (Frei-)Tod denken: die im Juli im Wiener Volkstheater zu sehende deutsche Ikone SUSANNE LINKE und der belgische Top-Regiestar ALAIN PLATEL. Einen wichtigen Input gibt überdies der belgische Jazz-Saxophonist und Komponist FABRIZIO CASSOL, der mit Platel anläßlich der internationalen Erfolgsproduktion V.S.P.R.S. (im Juni 2007 am Theater an der Wien) zusammen arbeitet.

Kurzprofil SUSANNE LINKE (geb. 19.6.1944 in Lüneburg/Deutschland, Sternbild Zwillinge) erlangte als Solotänzerin und Choreografin Welt-Bedeutung, da sie das Erbe des deutschen Ausdruckstanzes der Vorkriegszeit und das zeitgenössische deutsche Tanztheater vereint. Zum Tanz kam sie erst mit zwanzig, in Folge einer frühkindlichen Sprachstörung, wonach sie mit sechs Jahren sprechen lernte und den Willen aufbrachte, der realen Welt zuzuhören. 1964 Tanzunterricht im Mary-Wigman-Studio in Berlin. Begegnung mit ihrem Vorbild Dore Hoyer. 1967 Studium an der Folkwang-Hochschule und ab 1970 Tänzerin in Pina Bauschs Folkwang-Tanzstudio, das sie ab 1975 gemeinsam mit Reinhild Hoffmann für zehn Jahre selbst leitet. Seit 1970 choreografiert Linke: ausgezeichnet wurden 1975 Danse funèbre, Puppe? und Trop Trad. Ab 1985 freie Choreografin, u.a. für José Limón Company in New York, die Pariser Oper und das Nederlands Dans Theater, sowie internationale Solokarriere, die mit Schritte verfolgen über ihre fünf Lebensabschnitte "Sensenmann, Kindheit mit Psychiatrie, Tänzer-Träumereien, Adoleszenz und Gustav-Mahler-Finale" beginnt. Dieses Stück erlebt 2007, getanzt neben Linke (als Alterserscheinung) von vier Tänzerinnen, eine Rekonstruktion - zu sehen am 31.7.2007 beim Wiener ImPulsTanz-Festival im Volkstheater, 21h. Anfang der Neunzigerjahre gründet Linke die „Company Susanne Linke" am Hebbel-Theater Berlin, 1994 eine Weitere mit Tanzpartner Urs Dietrich; 2000/01 Mitbegründerin und künstlerische Leiterin des Choreographischen Zentrums Essen.


l: Alain Platel, r: Fabrizio Cassol, (photos © Elfi Oberhuber)


Gibt es einen Sinn des Lebens?

intimacy-art: Was ist der Sinn des Lebens?
SUSANNE LINKE: Es gibt keinen. Der Mensch braucht diese Annahme nur, um sich vorzumachen, einen Sinn finden zu müssen. Ausgehend von der Natur, die sich von den einfachsten molekularen Strukturen verfeinerte, wobei der Geist hinzu kam, der sich nun fragt:"Es muss doch einen Sinn geben?". Objektiv gesehen gibt es aber keinen.
FABRIZIO CASSOL: Der Sinn des Lebens-an-sich ist die eine Sache. Eigentlich geht es aber um deinen persönlichen Sinn. Das wäre für mich - wie bei jedem Musiker - auf der Bühne zu spielen; sowie eine Arbeit zu machen, wo die einzelnen Menschen wichtig sind. In den meisten Jobs ist das ja nicht so. Menschen emotional nahe zu kommen, Ideen, Erfahrungen auszutauschen, ist die sinnstiftende Chance des Künstlers.
intimacy-art: Reflektieren Sie manchmal bewußt darüber?
CASSOL: Ja, und dann fühle ich mich wie gesegnet. Der Segen, Menschen begegnen zu können, bedeutet für mich auch Verantwortung zu tragen, was ich sehr ernst nehme.
ALAIN PLATEL: Dazu stehe ich so ziemlich im Gegensatz.
CASSOL: Das ist bei uns wie beim Berg ...
intimacy-art: Zum Berg kommen wir noch.
PLATEL: Beim Gedanken an den Sinn des Lebens, werde ich zuerst einmal negativ, depressiv, aggressiv. Er macht mich wütend und rebellisch. Ich wil die Tatsache nicht akzeptieren, nur da zu sein, um zu sterben.
LINKE: Da könnte der Buddhismus helfen, als Versuch zu verstehen, was uns umgibt, was vor und nach uns ist. Das hilft nicht nur, Trauer an gestorbenen Freunden zu überwinden, sondern mit dem Tod umgehen zu lernen: ihn als Energie-Fortsetzung und Wandlung zu begreifen. Als Transformation, Transmission.
PLATEL: Bis jetzt vermochte ich es nicht, mir einzureden, dass nach dem Leben etwas Positives passiert. Ich stecke auf dieser Erde fest. - Gerade deshalb halte auch ich es für das Beste, sich gesegnet zu fühlen. Und da ist für mich nur entscheidend: mir unentwegte Neugierde, Überraschbarkeit, Offenheit zu erhalten. Sehe ich ein Bild, stelle ich mir den Maler dazu vor. Sehe ich eine Erfindung, denke ich an den Erfinder. Über alles freue ich mich sehr. Aber nur, weil ich es nähre. Ich versuche auch, mich über Entscheidungen, die ich in meinem Leben getroffen habe, glücklich zu fühlen. Dass sie überhaupt meinen Weg kreuzten, was ja von meinem Psychologie- und Behindertenpädagogik-Studium her unvorstellbar gewesen wäre. Ich würde weder von meinem Wesen, noch von meinem ursprünglichen Beruf her, reisen. Über das Touren entdeckte ich die Welt, eine wichtige Nahrung für meine Neugierde.
CASSOL: Es macht auch schon Sinn, die Mysterien des Lebens zu verstehen. Wobei mein Bewußtsein für die Spriritualität mit Kult und Mystik maßgebend ist. Ich wüßte nicht, wie eine Tasse Tee zu trinken, ohne damit verbunden zu sein. Ich wüßte nicht, wie ohne sie Saxophon zu spielen, wie eine Note zu komponieren.
LINKE: Das meinte ich mit dem Wort "Trans", das auch im Tanz so wichtig ist.
CASSOL: Ja. - Aber im Zusammenhang mit "Buddhismus" als Religion. - Ich halte nur die Rituale von Religionen für in Ordnung. Gerne bete ich mit, ob zum Geburtstag Buddhas in Korea, in den Tempeln mit den Hindus, mit den Katholiken in der Kirche, oder im Dschungel mit den Leuten im Busch. Wenn Menschen aber sagen, sie folgten einer Religion, frage ich mich oft, ob in ihnen wirklich Gott haust?
intimacy-art: Der Glaube dient dann zur sozialen Zugehörigkeit.
CASSOL: Aber egal, was man glaubt, es ist nie sicher, ob es richtig ist. Und doch besteht das ungeschriebene Gesetz, dass der Mensch im Grunde nie im Leben die Religion seiner Geburt wechseln kann, selbst wenn er sie wechselt. Deshalb ist es gut, mit sich selbst diesbezüglich vorsichtig umzugehen. Ich bin wahrscheinlich aber der religiöseste Mensch ...
PLATEL: Ich wünschte, ich wäre mental ein wenig behindert, um richtig glauben zu können.
CASSOL (lacht)
PLATEL: Dann könnte ich mich der Romantik nähern, die all die klassisch-religiösen Formen mit sich bringen. Ihre Bilder sind oft sehr hübsch, sodass ich mich angezogen fühle. Es könnte daher sehr einfach und angenehm sein, so zu glauben. Ich erinnere mich zum Beispiel an meine Großmutter, die an den Himmel glaubte, als Ort nach dem Tod, wo sich alle Leute treffen. Diese Bilder sind wie Märchen, weshalb sie so attraktiv sind. Um mich dem hinzugeben, bin ich wahrscheinlich aber mit zu viel Intelligenz gesegnet. Ich würde mich auch nicht frei genug dabei fühlen.


Zwischen Trauer und Genuß am Leben

intimacy-art: Alain Platel sagte in einem Interview: "Ich liebe, wie ich lebe, und falls ich jetzt sterbe, kann ich zufrieden sein. Ich habe getan, was ich tun wollte, dennoch finde ich, dass das Leben an-sich etwas sehr Trauriges ist. Vielleicht mag ich es deshalb, meine Stücke immer mit dem Tod enden zu lassen, weil er das Ziel des Lebens ist." - Indem Sie nun vorher sagten, dass Sie das nicht akzeptieren, scheinen Sie sich doch gegen die Trauer zu wehren. -Warum ist aber das Leben überhaupt so wahnsinnig traurig?
PLATEL: Weil es wie ein Riesen-Abendessen ist, zu dem du eingeladen bist, wo du all die fantastischen Gerichte siehst, aber nichts davon essen kannst. Oder du weißt, falls du davon ißt, wirst du krank. - Tatsächlich pendle ich aber zwischen einem Doppelgefühl in mir: zwischen der Trauer und dem Genuß in jedem Moment.
intimacy-art: Meinen Sie, die Erwartungen gegenüber begehrten Dingen sind größer, als man sie letztendlich erfährt?
PLATEL: Nein, temporär kann man volle Erfüllung erfahren. Aber als einzige Perspektive für die Zukunft weißt du: Älter zu werden, ist unangenehm. All deine Funktionen, physisch und psychisch, zu verlieren. Ich habe noch niemanden getroffen, der darüber glücklich war. Und es ist fast noch trauriger, sich als Außenstehender oder Sohn damit konfrontieren zu müssen. Mein Vater sagt: "Es gibt absolut nichts Nettes am Älterwerden." Dennoch streben wir alle darauf zu.
intimacy-art: Susanne Linke - Sie zelebrieren in ihrem autobiografischen Tanzstück "Schritte verfolgen II - Rekonstruktion und Weitergabe 2007" jeden Lebenaltersabschnitt als Genuß, Sie müßten dem daher widersprechen können.
LINKE: Ja, dazu stehe ich, obwohl es am Ende zur Begegnung mit dem Tod, dem Sensenmann, kommt, aber als Symbol für die Transformation. Richtig ist, dass das Leben nicht fröhlicher und lebendiger wird, sondern langsamer. Der Körper selbst verwandelt sich immer langsamer. Fast bis zum körperlichen Stillstand. Die Lust am Leben hängt jedoch mit der Energie zusammen. Und da kommt es zum energetischen Wandel. Die körperliche Energie läßt nach, wogegen die geistige Energie zunimmt. Und der Geist kann den Körper betrixen, weil er ihn ja inzwischen kennt: er kann ihn überlisten, wenn jetzt plötzlich das Kreuz schmerzt oder die Knie versagen. Die Bewegung entfernt sich somit von der jugendlichen Oberflächlichkeit und wird bestenfalls transzendental: als Einheit von Körper, Seele und Geist. Was im Tanz darzustellen ja viel schwieriger ist als die unterhaltende Akrobatik. Letztendlich ist es also der Geist, der am interessantesten ist - für mich war er das eigentlich schon immer.



Der Schrecken des Alterns in der westlichen Welt


PLATEL: Mit Glück, klappt das mit dem Geist, ja. Ich kenne aber Leute, die auch diese Funktionen verlieren. Sie werden langsamer, sie sehen nicht gut, sie hören schlecht, sie können nicht folgen, wenn Leute schnell sprechen. All das sagt dir klar und deutlich: "Entschuldigung, aber du nützt niemandem und nichts mehr." Kürzlich zeigte mir das selbst ein Typ aus Portugal, indem er mir ein e-mail mit Interviewfragen schickte: "Glauben Sie nicht nach zwanzig Jahren als Choreograf, dass es an der Zeit wäre, der jüngeren Generation Platz zu überlassen?" Ich fragte ihn: "Was bieten Sie mir stattdessen für Vorschläge? Fragen Sie mich, damit ich aufhöre, weil ich zu lange im Umlauf bin? Oder ist Ihr Vorschlag, dass das, was ich mache, keinen Wert mehr hat?" - Er war sehr geschockt über meine Antworten.
intimacy-art: Dabei wollte er wahrscheinlich nur ein kritisches Interview provozieren, weil das höchste Ziel im Journalismus die Kritik ist. - Da muss ein Antwort-Gebender auswägen können, ob es sich bei einer Frage gerade um Wahrheitsfindung oder Spiel handelt. - Da Sie mit ihrer Kunst so originell und zeitgemäß sind, würde ich das nicht allzu ernst nehmen.
PLATEL: Oh, doch. Ich nehme es ernst. Weil er nicht die einzige Person ist, die so fragt. Damit wirst du durchgehend geplagt. Tatsächlich bist du nur interessant, wenn du dein erstes "gutes" Stück machst. Danach ist es der reinste Kampf. Ich gebe jedem den Tipp, der in diesem Bereich arbeitet: "Gewinne keine Preise!"
intimacy-art (lacht)
PLATEL: Zu meiner Schwester, die Schauspielerin ist, sagte ich daher auch, nachdem sie einen Preis gewonnen hatte: Honey, jetzt wird´s hart ... Das ist also die Tendenz. Und ich nehme es ernst, weil ich diesen Typ auch mit dieser Art des Denkens konfrontieren wollte. Zum Einen, weil mich diese Gedanken bis zu einem bestimmten Grad tatsächlich selbst beschäftigen, zum Anderen, weil das zu hören grausam ist, und ich es als Effekt zurück werfen wollte. Um ihn zu zwingen, über seinen Vorgehensweise nachzudenken. Weil es im Grunde berührt, wie wir in unserer Gesellschaft alte Leute behandeln. Wie wir unsere Eltern, wie wir alte Leute über die Straße gehen sehen. Es wäre wichtig, diese Sicht zu ändern. Das glaube ich wirklich.
CASSOL: Die Musik ist eine der Ausnahmen, wo das nicht so ist. In der Musik ...
PLATEL: ... kannst du alt werden.
CASSOL: Ja. Du kannst mit achtzig noch immer spielen, wenn du willst. Bis zu deinem letzten Tag. Ich dachte gerade gestern beim Spazieren daran, als ich mit meinem Sohn über seine momentanen Band-Vorlieben sprach: er hört Bands wie die Red Hot Chili Peppers, die ich schon mit 18 hörte. Diese Musiker sind nicht jünger als ich, aber mein dreizehnjähriger Sohn verliert ihnen gegenüber die Bedeutung von Zeit. - Der Rest des Lebens ist aber nicht so. Diesbezüglich ist vor allem die westliche Welt grausam. In anderen Weltteilen sind Würde des Alters, Gefühl für ältere Leute, oder auch Mitleid, ausgeprägter.


Alain Platel, Fabrizio Cassol, (photos © Elfi Oberhuber)


Lesen Sie in Teil 2 schon bald auf dieser Site: Wie Alain Platel, Fabrizio Cassol und Susanne Linke über Selbstmord denken, und inwiefern Behinderte diesbezüglich un/glücklicher sind.


(Interview-Auszug vom 4.+6.6.2007, volle Länge in Print (Deutsch+Englisch) / Audio (Deutsch+Englisch gemischt) über intimacy-art@gmx.at)